Sturm der Herzen
deswegen ein Zusammentreffen mit Marcus so weit wie nur möglich hinauszögern und ihm aus dem Weg gehen wollen. Diesen Plan hatte er, überlegte sie bedrückt, sauber vereitelt.
Sie versuchte, Ärger zu empfinden, sich einzureden, dass es ihn nichts anging und sie ihm gar nichts sagen musste, aber selbst Verärgerung wollte sich heute Morgen nicht einstellen. Die Anspannung mit Whitley und der Bedrohung, die er darstellte, fertigzuwerden, die Menge mutiger Entschlossenheit, die sie hatte aufbringen müssen, um die dicken Efeuranken an der Hauswand des Gasthofes emporzuklettern und durch das Fenster in Whitleys Zimmer einzusteigen, das Entsetzen, das sie erfasst hatte, als Marcus sie gefunden hatte, forderte endlich seinen Zoll. Erschöpft von einer ruhelosen Nacht, voller Angst vor Whitley, fühlte sie sich so hilflos wie nie zuvor in ihrem Leben. Noch nicht einmal in den schrecklichen Tagen nach Hughs Tod in einem fremden Land, als ihr kleiner Sohn so völlig auf sie angewiesen war und sie sie beide sicher nach England bringen musste, hatte sie sich so allein und verwundbar gefühlt. Sie war, gestand sie sich ein, an einem Tiefpunkt angelangt. Wie ein rächender Gott wartete jetzt auch noch Marcus auf Antworten von ihr, die sie ihm nicht geben konnte - nicht zu geben wagte.
Sie warf ihm einen raschen Blick unter ihren Wimpern hervor zu, ihr Herz klopfte beim Anblick seiner schmalen Lippen und seiner kühlen grauen Augen schneller. Sie kannte den Ausdruck darin von früher, und sie wusste, dass er sich von seinem Vorhaben nicht würde abbringen lassen. Ihr Mut sank weiter. Bis sie ihm verriet, weshalb er sie in Whitleys Zimmer angetroffen hatte, würde er rücksichtslos eine Erklärung fordern. Die verdient er schließlich auch , räumte sie ein, aber ich habe keine, die ich ihm geben könnte .
Sie ahnte nicht, dass ihre Miene ihren inneren Zwiespalt widerspiegelte, und Marcus musste den hinterhältigen Drang bekämpfen, sie zu trösten und die Sache auf sich beruhen zu lassen. Er war felsenfest davon überzeugt, welche Gründe auch immer sie dafür gehabt hatte, in Whitleys Zimmer zu sein, dass sie ihr überaus wichtig waren; auf seiner Seite war es nur Eifersucht gewesen, die ihn zu seinen Anklagen letzte Nacht veranlasst hatte. Er kannte Isabel zu gut, und etwas Nachdenken in Ruhe hatte zu der Einsicht geführt, dass Whitley und Isabel kein Liebespaar waren, aber sie war eindeutig verzweifelt, unglücklich und verängstigt. Die Angst machte ihm mehr Sorgen als alles andere. Isabel konnte stur sein, aufreizend und einen wahnsinnig machen, aber sie war nicht feige. Für ihn stand außer Frage, dass sie sich auch unbewaffnet und völlig allein einem Rudel halbverhungerter Wölfe entgegenstellen würde, trotzig und ohne Angst, bereit, bis zum Tod zu kämpfen. Und doch hatte irgendetwas oder irgendjemand ihr Angst eingejagt. Obwohl er versuchte, sich daran zu klammern, lösten sich die letzten Reste seines Zornes auf sie in Luft auf; an seine Stelle trat der sehnliche Wunsch, denjenigen zu vernichten, der für den furchtsamen Ausdruck in ihren Augen verantwortlich war. Und das Verlangen, sie zu trösten, dachte er reuig. Im Augenblick verlangten seine Arme danach, sie zu halten, er wollte sie wissen lassen, dass sie nicht allein war, was auch immer vor ihr lag.
Wütend auf sich selbst, dass sie ihn so leicht von seinem Vorhaben abbringen konnte, erklärte er barsch: »Ich warte, Isabel. Warum warst du gestern Nacht in Whitleys Zimmer?«
Seine Stimme bewirkte, dass sie das Kinn hob, und sie erwiderte verärgert: »Darf ich dich daran erinnern, dass ich nicht länger dein Mündel bin? Sprich bitte nicht mit mir, als ob ich ein Kind wäre, das bei einer Missetat ertappt wurde.«
»Ich habe von dir weder als mein Mündel noch als Kind gedacht - und das schon eine ganze Weile nicht mehr«, versetzte Marcus. Er lenkte sein Pferd neben ihren nun ruhigen Hengst und berührte sie leicht am Arm. Leise versuchte er sie zu überreden: »Isabel, früher oder später musst du es mir verraten.« Als sie beharrlich schwieg, fuhr er fort: »Süße, was auch immer es ist, es kann doch unmöglich so schlimm sein, dass wir es nicht in Ordnung bringen können. Sicherlich hast du nichts so Schreckliches getan, dass du es mir nicht sagen kannst.«
Sie starrte wie versteinert geradeaus, bekämpfte den Drang, in Tränen auszubrechen angesichts der Freundlichkeit in seiner Stimme. Zur Hölle mit ihm. Warum konnte er nicht schimpfen und
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