Sturm der Seelen: Roman
Stacheldraht hinweg, und wer in dem Gewirr aus Widerhaken hängen blieb, machte es damit denen, die hinter ihm kamen, nur umso leichter, über sie hinwegzuklettern.
Draußen wartete Donner geduldig auf seinen Herrn. Die Augen fest auf den westlichen Horizont gerichtet, starrte er vorbei an den unter einer dicken Schneedecke begraben liegenden Lagerhäusern und leeren Straßen. Der Himmel war schwarz, nur die Sturmwolken hellten ihn hier und da zu einem dunklen Grauton auf. Krieg saß auf und stieß seine Füße zwischen die Rippen seines Reittiers.
Das Pferd stieß ein polterndes Wiehern aus, das klang wie der Abgang einer Lawine, und ein bizarres Muster zuckender Blitze erhellte den Himmel, dann blies das Tier Feuer aus seinen Nüstern und preschte vorwärts. In gestrecktem Galopp fegte Donner durch das geborstene Tor, der Boden unter seinen Hufen bebte, und der Himmel erzitterte.
Das Ende der Menschheit war nah.
L
MORMON TEARS
Unter dem Gewirr von Decken verborgen versuchte Ray, sich auf seinen Atem zu konzentrieren. Er würde sterben, daran hatte er nicht den geringsten Zweifel. Entschlossen hielt er den knöchernen Dolch an seine Brust gepresst, veränderte den Griff seiner Hand, konzentrierte sich auf jeden einzelnen Atemzug und versuchte an alles andere zu denken als an das, was ihm unweigerlich bevorstand, aber es war schlichtweg unmöglich. Er spürte das Vibrieren des Motorschlittens, fühlte, wie sich das Fahrzeug, der Kontur der unter ihnen zu Eis erstarrten Wellen folgend, hob und senkte. Der Motor wurde immer wieder leise, um dann von neuem aufzuheulen, nachdem der Fahrer kurz nach hinten gegriffen hatte, um sich zu vergewissern, dass er noch da war.
»Bist du noch da, Tina?«, flüsterte Ray, aber statt einer Antwort spürte er nur das Stechen der Kälte, die mit eisigen Fingern nach ihm tastete. Sie hatte gesagt, er würde wissen, wann der Moment gekommen war, wann er den Dolch in seiner schweißnassen Hand benutzen musste. Und dabei war er nie auch nur in eine Rauferei verwickelt gewesen. Glaubte sie wirklich, dass er einen Menschen töten konnte?
Sie wurden langsamer, und Rays Herz schlug immer schneller. Gleich rechts neben ihm hörte Ray noch ein zweites Motorengeräusch. Angst überkam ihn und schnürte seinen Brustkorb ein, sodass er kaum noch atmen konnte. Sein ganzer Körper zitterte.
»Bitte, lass mich nicht sterben«, flüsterte er, dann kamen sie ganz zum Stehen.
Das Brummen des Motors erstarb, und die Sitzbank unter ihm hörte auf zu vibrieren. Stattdessen hörte Ray nur noch das Heulen des Windes und das Trommeln der Schneeflocken, die wütend gegen seine Decken schlugen.
»Komm mit«, sagte der Fahrer und gab Ray einen Stups. »Du bist jetzt in Sicherheit. Jetzt wird dir niemand mehr was tun.«
Nur wie lange? Sobald sie sein Gesicht sahen …
Ray ließ sich schnell von der Sitzbank heruntergleiten, bevor sie versuchen konnten, ihm dabei zu helfen. Seine Tarnung würde ohnehin nicht mehr lange halten, aber sobald einer von ihnen seinen Körper auch nur berührte, wäre er so gut wie tot. Ray stampfte ein paar Mal auf, damit er etwas tiefer in den Schnee sank.
»Hey, Richard!«, schrie der Mann neben ihm.
»Wir haben doch, weshalb wir gekommen sind …«, hörte er eine weitere Stimme, vermutlich die des anderen Fahrers. Er sprach viel leiser. »Lass uns schnell weiterfahren, die anderen holen uns dann schon ein.«
»Entspann dich. Es dauert ja nicht mehr lange. Denk einfach an den schönen heißen Kaffee, der uns erwartet, wenn wir wieder zurück sind.«
»Ich stelle mir eher eine elektrische Heizdecke und einen Teller dampfende Suppe vor. Hühnersuppe mit Nudeln. Mann, das wär’s jetzt.«
»Hm, ich denke, ich nehme lieber …«
»Ausgezeichnete Arbeit!«, rief Richard und kam den kleinen Abhang zu ihnen heruntergeschlittert. Er stapfte durch den Schnee, bis er direkt vor Ray stand, und starrte erwartungsvoll auf die Dampfwolken, die aus dem kleinen Spalt zwischen den Decken aufstiegen, hinter dem lediglich Rays Kinn zu sehen war. »Wir sind gekommen, um dich in Sicherheit zu bringen. Haben sie dir wehgetan, Jake? Du weißt, dass wir alles getan haben, was wir nur konnten, um deine Mutter zu retten, und dasselbe werden wir jetzt für dich tun. Sobald wir wieder zuhause sind, werde ich selbst dafür Sorge tragen, dass dir nie wieder jemand auch nur ein Haar krümmt. Wir können ein Team sein, Jake. Ich werde mich um dich kümmern wie um meinen eigenen Sohn. Wie
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