Sturm der Seelen: Roman
würde sie Faser für Faser in Stücke gerissen, und Adam versuchte, das Gewicht auf seinen Armen wieder ein Stück weiter nach oben zu hieven. Dann zwang er seine zitternden Beine, sich in Bewegung zu setzen. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und ging auf die beiden geparkten Schneefahrzeuge zu. Der Lichtkegel der Scheinwerfer warf seinen Schatten zurück bis zu der Stelle, an der Phoenix wartete, und Adam konnte die auf ihn gerichteten Gewehrläufe regelrecht fühlen, als müsse er ihr Gewicht noch zusätzlich tragen. Er fragte sich, ob er den Einschlag der Kugeln wohl spüren würde, bevor er starb.
Als er fast bei den Motorschlitten angekommen war, blieb er noch einmal stehen und schaute hinauf zu Richard.
»Sie müssen mir Ihr Wort geben, dass Sie dem Jungen nichts tun!«
»Dem Kind wird nichts passieren, aber dir, wenn du den Kleinen jetzt nicht sofort herausrückst!«, drang Richards Stimme kaum hörbar durch den Sturm.
Adams Herz schlug bis zum Hals, und seine Beine verweigerten den Dienst. Wenn er jetzt diese letzten fünf Schritte machte, sprach er damit das Todesurteil über den Jungen auf seinen Armen.
»Geh weiter«, kam wieder die Stimme zwischen den Decken hervor.
Seine Beine setzten sich wie von selbst in Bewegung, und schließlich stand Adam vor dem ersten der beiden Motorschlitten. Der Fahrer kletterte von der Sitzbank und hielt Adam den Lauf seines Gewehrs direkt unter die Nase, während er vorsichtig den Jungen auf die Sitzbank hievte, ohne dabei die Decken verrutschen zu lassen. Dann ging er langsam rückwärts, den Lauf des Gewehrs immer noch so nahe vor seinem Gesicht, dass er das Waffenöl daran riechen konnte.
Als er etwa zehn Meter weit weg war, schlang der Fahrer sein Gewehr wieder über die Schulter, eine Schneefontäne ergoss sich über Adam, und die Motorschlitten jagten wieder davon in die Dunkelheit.
»Was habe ich nur getan?«, stammelte er. Tränen liefen über seine Wangen.
Adam schaute wieder hinauf zu der Felseninsel. Er sah Richard, der ihn immer noch beobachtete. Dann blitzte rechts von Richard ein Licht auf, und etwas Warmes, Feuchtes traf Adams Gesicht. Es folgte ein lauter Knall.
Adam wischte sich die roten Spritzer aus dem Gesicht und starrte auf seine Handschuhe, auf denen neben Blut auch Fetzen von weißen Federn klebten. Vor ihm auf dem Boden lag ein großer weißer Vogel, die Flügel seltsam verrenkt, den Schnabel seitlich nach oben verdreht. Aus einem Krater in seiner Brust quoll Blut. Und während Adam das tote Tier anstarrte, sah er plötzlich noch etwas anderes: Wie bei einer Doppelbelichtung legte sich ein zweites Bild über den Kadaver, er glaubte, die Umrisse eines menschlichen Körpers zu erkennen, gehüllt in eine Tierhaut, darüber lange, dunkle Haare und ein Gesicht mit noch dunkleren Augen.
»Lauf!«, schrie Phoenix.
Adam wirbelte herum. Phoenix stand bereits hinter ihm und zog ihn am Arm, doch Adam wollte noch einen letzten Blick auf die geisterhafte Erscheinung vor ihm werfen. Aber die Frau war schon wieder verschwunden, und er sah nur noch einen Klumpen blutverschmierter Federn. Erst als sie beide rannten, fügten sich die Details langsam ineinander. Der Knall, den er gehört hatte, musste von einem Gewehr gekommen sein, das auf ihn abgefeuert worden war, und der Vogel … hatte das Tier tatsächlich die für ihn bestimmte Kugel abgefangen? Und war diese Erscheinung vielleicht so etwas wie die Seele eines Menschen gewesen, die in dieser Hülle gelebt hatte?
Sie rannten weiter auf das gegenüberliegende Ufer zu, und Adam hörte noch weitere Schüsse, die hinter ihm dröhnten wie Donner. Dann hüllte der Sturm sie ein, und sie konnten weder die Insel hinter ihnen noch das Ufer vor ihnen sehen.
Adam musste sein Tempo verlangsamen. Er stützte sich auf seine Oberschenkel, um wieder zu Atem zu kommen.
»Was … was war das gerade?«, fragte er keuchend.
»Die Gosiute«, erwiderte Phoenix. »Das Indianervolk, das hier vor hunderten von Jahren gelebt hat. Sie gaben ihr Leben dem Sturm, und jetzt leben ihre Seelen in ihm weiter.«
Exakt in diesem Moment tauchten über ein Dutzend weitere Falken aus dem Schneegestöber auf und landeten in einem Kreis um sie herum, dann waren sie ebenso schnell wieder verschwunden. Bei dem Anblick schnürte sich Adams Kehle zusammen, er konnte kein Wort sprechen.
Schließlich trug der Wind ein neues Geräusch zu ihnen herüber, ein gespenstisches, rhythmisches Klopfen wie von einem Baum, der in einiger Entfernung
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