Sturm der Seelen: Roman
er umkehrte. Ein Teil von ihm war sich vollauf bewusst gewesen, dass er Ray womöglich in den Tod geschickt hatte, und Adam hatte nicht protestiert. Umgeben von so viel Tod war er abgestumpft geworden. Doch es gab auch eine Seite in ihm – die menschlichere Seite – die das nicht hinnehmen wollte. Rays Schreie hallten in seinem Kopf wie Kanonendonner, und Adam hatte das Gefühl, das mit jedem von Rays Schmerzensschreien ein Stück von seiner Menschlichkeit aus seiner Seele gerissen wurde. Phoenix hatte zu ihm gesagt, dass es ihm bestimmt sei, sie anzuführen, und Adam hatte sich schließlich in seine Rolle gefügt. Wenn er Ray jetzt zu Hilfe eilte, um ihn zu retten, und dabei versagte, wäre damit nicht nur sein eigenes Schicksal besiegelt, sondern auch das derer, die ihm ihr Leben anvertraut hatten. Er versuchte sich einzureden, dass er Ray zum Wohl aller im Stich gelassen hatte, aber letztendlich lief es auf nichts anderes hinaus, als dass er Angst hatte. Angst, getötet zu werden. Angst, diejenigen zu enttäuschen, die auf ihn zählten. Aber am meisten Angst hatte er davor, zu versagen, was weit schwerwiegendere Konsequenzen hätte als nur ihren Tod. Es wäre das Ende der gesamten Menschheit.
War eine Rasse, die bereit ist, das Leben eines Einzelnen für das Wohl der anderen zu opfern, es überhaupt wert zu überleben? Ganz egal, welche Konsequenzen sein Handeln für ihn selbst haben mochte, Adam konnte nicht zulassen, dass das menschliche Leben so an Bedeutung verlor. Es war weit besser, bei dem Versuch, ein anderes Leben zu retten, zu sterben, als einen Menschen einfach seinem sicheren Tod zu überlassen, den er vielleicht hätte retten können – selbst wenn dieser Versuch vergeblich sein sollte. Allein bei dem Gedanken, dass er diese Möglichkeit in Betracht gezogen hatte, wurde ihm übel. Aber vielleicht würde er noch eine Chance bekommen, es wiedergutzumachen.
Obwohl ihm der Schnee schon fast bis zur Hüfte ging und er seine Hände benutzen musste, um überhaupt vorwärtszukommen, beschloss Adam, zurück zur Insel zu gehen. Er horchte angestrengt auf jedes Geräusch und versuchte aus dem Heulen des Windes Rays Schreie herauszufiltern. Aber außer dem Sturm hörte er nichts, und dieses Schweigen erschütterte ihn. Es konnte nur eines bedeuten.
»Ray!«, brüllte er gegen jede Vernunft und wartete nur darauf, dass ihm jeden Moment die Kugeln um die Ohren pfeifen würden. Wegen des Sturms konnte er vor sich nicht das Geringste erkennen, und er wagte es nicht, auch nur ein einziges Mal hinter sich zu schauen aus Angst, damit seinen Entschluss zu gefährden. Der Wind hatte seine und Phoenix’ Spur bereits wieder zugeweht, und Adam wusste nicht einmal, ob er in die richtige Richtung ging.
Wenn Ray tatsächlich tot war, könnte er sich selbst nicht mehr ertragen. Wie hatte er sich überhaupt zu so einem törichten Handel überreden lassen können? Sie hätten alle gemeinsam, Schulter an Schulter, für ihre Sache einstehen sollen, anstatt Ray zu opfern. Und wofür? Um sich ein paar Stunden mehr zu erkaufen? War das ein Menschenleben wert?
Seine Gedanken trieben ihn nur noch schneller voran, auch wenn jeder einzelne Muskel protestierend aufschrie und seine Lunge es schon lange nicht mehr schaffte, genügend Sauerstoff in seinen Körper zu pumpen. Der Speichel gefror ihm auf den Lippen, und selbst seine Zähne schmerzten von der Kälte. Eine leise Stimme irgendwo ganz hinten in seinem Kopf flehte ihn an, sich nur für ein paar Minuten hinzulegen, damit er sich ein wenig erholen konnte. Nur fünf lausige Minuten, damit sein Körper wieder zu Kräften kommen konnte. Oder wenigstens für ein paar Sekunden die Augen schließen …
»Nein!«, schrie er und riss seine Augen so weit auf, wie er nur konnte, um nicht ohnmächtig zu werden. Er hatte keine Zeit, schwach zu sein. Adam biss sich in die Unterlippe und konzentrierte sich auf den Schmerz, während das Blut aus seinen Mundwinkeln triefte.
Der Schnee fiel so dicht, dass er kaum die Augen offen halten konnte, aber er kämpfte sich unbeirrt weiter vorwärts. Dann hörte er ein leises, unter dem Tosen des Sturms kaum wahrnehmbares Geräusch. Es waren nicht die Schreie, auf die er gehofft hatte, sondern eher ein Wimmern.
»Ray?« Adam wandte sich nach rechts und lief in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Ein dunkler Umriss tauchte vor dem endlosen Weiß auf, und Adam sah eine gebückte Gestalt, die sich Schritt für Schritt dahinschleppte und dann
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