Sturm der Seelen: Roman
unvermittelt zusammenbrach. Sie versuchte, wieder aufzustehen, fiel aber sofort wieder hin. »Ray!«
Adam rannte auf den Jungen zu, der schon wieder vornüber in den Schnee gesunken war, nur dass er diesmal endgültig liegen blieb. Die Kapuze hing lose herunter, und bis auf einen Flecken blanker Kopfhaut waren Rays Haare zu einem einzigen Klumpen Eis zusammengefroren. Adam ergriff seine Arme und half ihm, auf die Knie zu kommen.
»Sprich mit mir, Ray! Bist du ver…?« Die Worte erstarben ihm auf den Lippen, als Adam den Abdruck sah, den Rays Gesicht im Schnee hinterlassen. Er war hellrosa. »O mein Gott …«
»Bitte«, flüsterte Ray, »töte mich.«
Ray drehte seinen Kopf in Adams Richtung, als wolle er ihm in die Augen sehen, aber er starrte ihn nur aus leeren, schwarzen Höhlen an, in denen das Blut mittlerweile zu Eis verklumpt war.
»O Gott, Ray …« Adam musste sich mit aller Macht zusammenreißen, um sich nicht entsetzt wegzudrehen. Er schob seine Arme unter Rays Schultern hindurch und half dem Jungen vorsichtig auf die Beine. Mit viel zu viel Gewicht auf seinen erschöpften Schultern machte sich Adam auf den Weg zurück zur Höhle. »Es tut mir so leid, Ray. Das ist alles meine Schuld. Bitte, vergib mir …«
Ray musste husten und spuckte Blut, dann versuchte er erneut, Adam anzusehen. Eine warme Flüssigkeit lief aus seinen Stirnhöhlen hinunter in seinen Rachen. »Du hättest nicht zurückkommen sollen, um mich zu holen.«
»Ich hätte diesem Plan niemals zustimmen dürfen.«
Ray versuchte zu lachen, aber seine Schmerzen waren einfach zu groß. »Du hättest mich nicht aufhalten können.«
»Ich kann nicht glauben … Ich kann nicht glauben, dass sie dir das angetan haben. Ich … Es tut mir so unendlich leid.« Selbst für Adam klangen diese Worte so unglaublich hohl und bedeutungsleer, sie waren nichts im Vergleich zu dem, was dem Jungen geschehen war.
»Ich habe es ja selbst herausgefordert.«
»Nicht das. Es gibt nichts, das du getan haben könntest, um … um das zu rechtfertigen.«
»Ich habe Richard ein Messer in den Bauch gestochen.«
»Ist er …?«
»Nein«, erwiderte Ray und schüttelte ganz langsam den Kopf. »Ich habe ihn nur wütend gemacht.«
»War er es, der dir das angetan hat?«
Ray schwieg.
»Ich werde ihn umbringen«, zischte Adam so entschlossen, dass er selbst darüber erschrak. Während seiner Militärzeit war er sich stets bewusst gewesen, dass er einmal in eine Situation kommen könnte, in der er einen anderen Menschen töten musste, um sein eigenes Leben zu retten, andererseits hatte er aber auch gewusst, dass er als Arzt sehr wahrscheinlich nie an vorderster Front stehen würde. Doch nie im Leben hatte er damit gerechnet, dass er eines Tages regelrechte Mordlust verspüren würde. Seine Aufgabe war es, Leben zu retten, und dieser Drang, den er jetzt in sich spürte, stand in krassem Gegensatz zu seiner eigentlichen Berufung. Aber Richard war nicht nur irgendein Mensch. Er war die Verkörperung des Bösen. Oder wer sonst brachte es fertig, einem Menschen die Augen auszustechen und ihn dann hinaus in einen Schneesturm und damit in seinen sicheren Tod zu schicken?
»Er hat mich zurückgeschickt, um euch zu warnen«, brachte Ray mühsam hervor. »Er sagte, er würde euch alle töten.«
»Dann werden wir uns bereitmachen«, erwiderte Adam. »Wir werden ihnen einen gebührenden Empfang bereiten.«
Sie schleppten sich weiter in Richtung Westen – oder zumindest dahin, wo Adam glaubte, dass Westen sein musste. Er hatte jegliches Gefühl dafür verloren, wie weit es noch sein mochte, und mit jedem Schritt fürchtete er mehr, dass sie sich in Wahrheit von ihrem Ziel wegbewegten anstatt darauf zu. Wenn das der Fall war, würden sie auf ewig im Kreis laufen oder so lange, bis sie vor Erschöpfung endgültig zusammenbrachen, um nie wieder aufzustehen. Er schaute sich noch einmal nach hinten um, konnte aber kein Anzeichen von der Insel erkennen. Und das einzige Geräusch, das er neben dem Heulen des Windes hörte, war ein monotones Tack … Tack … Tack … , als wäre jemand in einiger Entfernung damit beschäftigt, einen Baum zu fällen.
Adam wollte gerade die Marschrichtung ändern, da sah er vor ihnen, etwas nach links versetzt, dort, wo der Sturm jetzt am heftigsten tobte, einen Lichtschein aufflackern. Riesige Schneeflocken jagten zu Abertausenden fast waagrecht an ihm vorbei, ganz so, als versuchten sie, ihm die Sicht zu versperren auf das, was dort vor sich
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