Sturm der Seelen: Roman
einen Blick auf ihre Wunden werfen zu können.
»Ich heiße Mare«, sagte er, beugte sich zu dem kleinen Jungen hinunter und reichte ihm seine Hand. »Und wer bist du?«
»Jake.«
»Schön, dich kennenzulernen, Jake«, erwiderte Mare und schüttelte ihm mit gespielter Förmlichkeit die Hand.
»Und das ist deine Schwester?«, fragte Jake und deutete in Richtung des Sees.
»Woher …?«, begann Mare und drehte sich wieder zu Jake um, der aber schon mit seiner Mutter auf das Feuer zulief.
VI
MORMON TEARS
Ray wusste mit Sicherheit, dass er nicht schlief, aber er wusste ebenso sicher, dass er nicht wach war. Sein Bewusstsein schwebte in einem Zustand, in dem er sich nur abwechselnd auf die lodernden Flammen vor ihm und dann wieder auf die Innenseite seiner Augenlider konzentrieren konnte, in einem Reich des Schmerzes. Doch spürte er keinen körperlichen Schmerz. Ob das von der Kälte der letzten Nacht kam oder davon, dass er langsam jede Fähigkeit zu fühlen, verlor, konnte er nicht sagen. Der Schmerz hingegen, den er mit seiner ganzen Wucht fühlen konnte, war emotionaler Natur und so intensiv, dass er ihn ohne auch nur eine Sekunde zu zögern gegen jede noch so grausame Folter eingetauscht hätte. Seine gesamte Welt war ihm innerhalb eines einzigen Tages entrissen worden. Als Erstes war seine Mutter bei der Nuklearexplosion in New York ums Leben gekommen, und dann hatte er mit ansehen müssen, wie die Liebe seines Lebens von diesen reptilienhaften Schatten in Stücke gerissen wurde.
»Tina«, flüsterte er, während das Blut aus seinen von der Kälte aufgesprungenen Lippen sickerte und er mit aller Kraft dieses Bild in seinem Geist niederkämpfte, wie ihr kopfloser Rumpf von der Wand neben ihm abprallte und in einer Lache aus Blut liegen blieb.
Der Fels unter ihm strahlte eine bittere Kälte aus. Weder sein Kapuzenshirt noch die Decke änderten etwas daran. Darren und die Mädchen waren verschwunden – wann waren sie eigentlich weggegangen? Sie hatten ihn allein gelassen, hunderte von Meilen von Eugene, seiner Heimat, und dem einzigen Leben, das er jemals gekannt hatte, entfernt. Er konnte seine Augen nicht wieder schließen, aus Angst, er würde ein weiteres Mal mit ansehen müssen, wie Tina hinter die Tür der Restaurant-Toilette gezerrt wurde, ihre Schreie hören, während sie abgeschlachtet wurde; aber er konnte die Augen auch nicht offen lassen und die Blicke der anderen Überlebenden ertragen, ihre verdreckten Gesichter, die so taten, als würden sie ihn nicht sehen, als wäre er eine Art Aussätziger. Sie starrten ihn aus dem Augenwinkel an, sahen aber weg, sobald er ihren Blicken begegnete. Er musste raus hier, raus aus diesem Gedankenstrudel. Er hatte ein Gefühl, als kämen die Wände immer näher und als würde gleichzeitig alle Luft zum Atmen nach draußen gesaugt. Er bekam keine Luft … bekam … keine Luft …
Noch bevor er eine bewusste Anstrengung dazu unternahm, stand er bereits auf und kämpfte mit seinem Gleichgewichtssinn. Er spürte das Gewicht ihrer Blicke auf sich, wie sie sich in sein Fleisch bohrten und sich bis in sein innerstes Mark wühlten. Er taumelte vorwärts und hörte, wie eine Frau nach Luft schnappte, als sie das Blut sah, das sofort aus seiner Nase zu tropfen begann. Aber er ignorierte sie, schob sich an ihr vorbei und hätte dabei beinahe ihren kleinen Sohn umgestoßen. Alles, an was er denken konnte, war der graue Himmel draußen, außerhalb dieser erdrückenden Höhle, doch er war kaum durch die Rauchschwaden des Feuers hindurch, die ganz leicht nach braunem Zucker und geräuchertem Speck rochen, als er auch schon mitten hinein in eine Traube von Menschen stolperte. Alle Blicke schossen in seine Richtung, Münder öffneten sich, und ein unerträgliches Stimmengewirr erfüllte die Luft. Er musste weg hier. Weg von allem. Also hastete er zurück, so schnell er konnte, und wäre beinahe gestürzt, rannte durch die Rauchschwaden hindurch, zurück ins Innere der Höhle, wo nur noch mehr starrende Blicke und unverständliche Wortfetzen auf ihn warteten. Ray riss seinen Mund auf, wollte schreien …
Er spürte, wie eine kalte Hand die seine berührte, und mit einem Mal drang die Welt wieder zu ihm durch. Er blickte hinab auf die kleinen Fingerchen, die seine Hand umklammert hielten, und folgte mit seinen Augen dem dünnen Ärmchen hinauf bis zu dem Gesicht des kleinen Jungen. Er sah in die Augen des kleinen Kindes, die blauer waren als die arktische See.
»Das,
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