Sturm der Seelen: Roman
einmal …«
Er schloss seine Finger um den Griff, stand mühsam auf und schleppte sich schluchzend zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. Blut rann aus seinem Zeigefinger den Griff des Dolches entlang und über die rasiermesserscharfe Klinge, von der es mit einem leisen Tapp … Tapp … Tapp … auf den Boden der Höhle tropfte.
VII
MORMON TEARS
Evelyn saß auf einem Felsen und ließ ihre Füße in das eiskalte Wasser baumeln. Sie waren so rot, wie sie es noch nie zuvor gesehen hatte, nur ihre Zehen wurden schon weiß und immer tauber für die stechende Kälte. Sie hatte keine Erklärung dafür, warum sie ihre Füße nicht einfach aus dem Wasser zog, um sie aufzuwärmen. Wahrscheinlich war es eine ganz angenehme Abwechslung, einmal etwas anderes als Schmerz und Trauer zu spüren. Das Schlimmste war, dass diese Empfindung von Kälte mitten durch den Nebel in ihrem Bewusstsein schnitt und einen Teil davon freilegte, von dem sie bisher nicht einmal gewusst hatte, dass er überhaupt existierte. Irgendwo in ihrer Psyche, in diesem normalerweise vollkommen undurchdringlichen Hort unterdrückter Gedanken und Gefühle, verbarg sich ein schmerzhaft realer Anteil ihrer selbst, der wütend war auf ihren Vater für das, was er ihr angetan hatte. Der rationale Teil ihres Bewusstseins wusste, dass sein Unfall kein teuflisch eingefädelter Plan gewesen war, um ihr Leben zu ruinieren. Sie liebte ihn, wie ein Kind seinen Vater nur lieben konnte, aber als sie gezwungen war, ihr neues Leben und ihre Ausbildung aufzugeben und auf die Fasanenfarm zurückzukehren, der sie unter größten Anstrengungen gerade erst entronnen war, begann dieser Groll in ihr zu wachsen wie ein bösartiger Tumor. Mit dieser furchtbaren Erkenntnis zurechtzukommen war das eine, aber alles noch einmal durchzumachen, wie sie seine Leiche aus dem Haus zu dem Scheiterhaufen schleppte, auf dem sie eben noch die Überreste der Fasanen verbrannt hatte, war etwas völlig anderes; wie sie die letzten Tropfen Benzin aus dem Kanister über seine aufgedunsene, schwarze Leiche gegossen und mit der himmelblauen Flamme ihres Feuerzeugs seinen Pyjama in Brand gesteckt und gerade so lange hingeschaut hatte, bis sie sich sicher sein konnte, dass die Flammen seine Überreste restlos verzehren würden; die Vorstellung, wie sich die Rauchfahne ihres improvisierten Scheiterhaufens über den brennenden Schuppen dahinter erhob, während sie mit dem Pick-up im Schneckentempo über die Schotterauffahrt fuhr, weg von der schwelenden Ruine des Traums, den ihre Eltern gemeinsam geträumt hatten.
»Es tut mir leid, Daddy«, wimmerte sie und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln, noch bevor sie sich überhaupt bilden konnten.
Sie blickte hinaus auf den See, auf die kalten, schwarzen Wellen, die selbst ohne Sonnenlicht einen harten Glanz auszustrahlen schienen, auf die Felseninsel, die am östlichen Horizont nur als dünner Strich zu erkennen war. Die anderen waren alle ein paar hundert Meter weiter nördlich, auf dem sandigen Teil des Strandes, und auch wenn ihr selbst die Gesellschaft und das Mitgefühl von Fremden ein willkommener Trost gewesen wären, sehnte sie sich doch noch viel mehr danach, allein zu sein. Was war sie nur für ein Mensch, dass sie solche Gedanken hatte? War dieser kranke Anteil ihrer Seele vielleicht sogar froh, dass ihr Vater tot war?
Die Tränen begannen wieder zu fließen, diesmal schneller, als sie sie wegzuwischen vermochte. Sie ließ ihren Kopf hängen, schlaff und nutzlos baumelte er zwischen ihren von Schluchzern geschüttelten Schultern. Die Tränen sammelten sich an der Spitze ihres Kinns, bis der Tropfen groß genug war, sich endlich loszureißen, und klatschend auf den salzigen Untergrund fiel.
»Mehr Menschentränen«, flüsterte sie und schüttelte den Kopf. Ein Meer aus verlorenen Leben und unsäglicher Trauer, gefüllt mit salzigen Tränen …
Mit weit aufgerissenen Augen richtete sie sich auf.
Dieser Ort war mehr als nur ein Auffangbecken für alles Leid der Menschheit, mehr als ein übersinnliches Leuchtfeuer, das sie alle in seinen sandigen, weißen Schoß gelotst hatte.
Er war ihre Rettung.
»Mein Gott«, keuchte Evelyn und sprang auf die Füße. Immer noch wie betäubt von Trauer, Schmerz und Kälte konnte sie das Gewicht ihres Körpers kaum tragen, und sie hatte gerade noch genug Zeit, sich mit einer Hand auf dem Felsen abzustützen, bevor ihre Beine den Dienst wieder versagten und sie beinahe in die
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