Sturm der Seelen: Roman
salzige Brühe vor ihr geplumpst wäre. Auf allen vieren kletterte sie hastig über die Felsen bis auf den Sandstrand, konnte die Langsamkeit ihrer kriechenden Fortbewegung nicht länger ertragen und kämpfte sich irgendwie auf die Beine hoch und rannte, so schnell es nur irgend ging, auf das Lagerfeuer und die dahinterliegende Höhle zu, in der sie ihren Rucksack gelassen hatte. »Sag mir, dass sie noch leben. Lieber Gott im Himmel, bitte mach, dass sie noch leben.«
Sie hastete an einer Gruppe Leute vorbei, die sich um ein Zelt auf der Ladefläche eines Pick-up versammelt hatten, weiter zu einer Gruppe, in der ein Mann in einem Tarnanzug die Füße einer blonden Frau untersuchte, dann stürzte sie sich hinein in den rauchenden Eingang der Höhle.
»Hey, Lady!«, rief ein alter Mann, der sich gerade an dem Feuer wärmte, hinter ihr her, nachdem sie direkt an ihm vorbei schnurstracks zu der Stelle gerannt war, wo sie ihren Rucksack gegen die Höhlenwand gelehnt hatte. »Hast du noch was von diesen Bohnen für mich?«
Evelyn warf sich den Rucksack über die Schulter und rannte wieder zurück, ohne auf den Mann zu achten, ihren Blick geradeaus auf das Fleckchen Strand gerichtet, wo der Sand- in Kiesstrand überging. Nach fünfzig Metern musste sie kurz stehen bleiben, um wieder zu Atem zu kommen, und nutzte die Gelegenheit, die wenigen Habseligkeiten, die ihr noch geblieben waren, zu durchwühlen. Als sie gefunden hatte, wonach sie suchte, zog sie das Päckchen aus ihrem Rucksack und warf es auf den Boden. Sie entfernte die Folie und entfaltete ein langes, grünlich-braunes Pflanzenblatt. Das Knäuel aus Wurzeln war fast trocken, aber immer noch elastisch. Das Blatt selbst begann bereits zu verwelken, aber was sie da in Händen hielt, war eine der widerstandsfähigsten Spezies auf dem gesamten Globus, weshalb sie die Hoffnung noch nicht fahren ließ und die Pflanze in die Brusttasche ihres Flanellhemds steckte.
Wieder kletterte sie mühsam über die Felsen, kniete sich ins Wasser und schob die kleinen Kiesel auf dem Grund des Sees zur Seite. Das eiskalte Wasser schwappte gegen ihre Hüften, und jedes einzelne Härchen an ihrem Körper stellte sich auf. Der Schlick am Boden des Sees trübte das Wasser, weshalb Evelyn ihre Hände nicht mehr sehen konnte, aber das machte nichts, denn sie würde ohnehin nicht besonders tief graben müssen. Sie zog das kleine Bündel aus ihrer Hemdtasche und setzte die erste Seetangpflanze ins Wasser, probierte ein wenig herum, bis die Wurzeln genau da waren, wo sie sie haben wollte, dann häufte sie den Schlamm um den Strunk der Pflanze. Sie hatte lediglich ein Dutzend davon mitgenommen als Erinnerung an das, was hätte sein können, als einen Hoffnungsschimmer im Chaos des Weltuntergangs, und jetzt pflanzte sie jede einzelne davon geduldig ein, bedeckte die Wurzeln mit Schlamm und drückte ihn gerade so fest an, dass sie festwachsen konnten und trotzdem noch genug Sauerstoff zu ihnen durchdrang. Als Letztes bedeckte sie den Boden um die Pflanzen herum wieder mit Kieseln, als Schutz für die kleinen Pflänzchen. Als sie ihre Hände wieder aus dem Wasser zog, waren ihre Finger so kalt, dass sie sie kaum mehr bewegen konnte. Evelyn vergrub ihre Hände in ihren Achselhöhlen, um sie irgendwie wieder warm zu bekommen. Die Arbeit war getan, und ganz egal, wie sehr ihre Finger jetzt auch schmerzten, es hatte sich gelohnt.
Evelyn setzte sich auf einen der Felsen und zog ihre Beine eng an sich, um das bisschen Körperwärme, das ihr geblieben war, zu konservieren. Mit klappernden Zähnen wartete sie eine halbe Ewigkeit lang, bis sich die Schlammwolke wieder gelegt hatte und sie die Früchte ihrer Arbeit bestaunen konnte. Exakt zwölf lange Blätter ragten aus dem Kiesbett hervor und schwankten mit dem Wellengang sanft vor und zurück.
Dieser Moment war eigentlich als Höhepunkt ihres früheren Lebens vorgesehen gewesen: der Feldversuch, um die Hypothese ihrer Masterarbeit zu beweisen. Evelyn wurde ganz aufgeregt bei dem Gedanken, und ihr Herz schlug schneller. Bald würde sie wissen, ob ihre Karrierepläne nur eine Illusion gewesen waren oder ob es tatsächlich möglich war, Meeres-Seetang, mit dem sich ganze Völker ernähren ließen und der nebenbei auch noch die Ozeane von den Wunden des Missbrauchs durch den Menschen heilen würde, als Nutzpflanze zu kultivieren. Und da war noch etwas: Dies waren nicht nur Setzlinge, die sie ein paar hundert Meilen weit über den Kontinent geschafft und
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