Sturm der Seelen: Roman
was du suchst, wirst du da draußen nicht finden«, sagte der Junge mit so leiser Stimme, dass er ihn kaum hören konnte. »Du musst ganz tief da drin suchen.« Der Klang seiner Worte hallte in Rays Kopf nach, bis der Junge plötzlich wegsah. Ray folgte seinem Blick, bis er erkannte, wohin der Kleine schaute: ein gähnendes Loch in der Wand hinter ihm, ein steinerner Torbogen, dahinter eine Dunkelheit schwärzer als Teer.
»Sie wartet da drinnen auf dich«, flüsterte der Junge, aber als Ray sich nach ihm umdrehte, sah er, dass der Junge ganz am Anfang der Schlange stand, wo ihm ein Mann mit Pelzmütze gerade eine ordentliche Portion Bohnen auf den Teller schaufelte.
Ray wischte sich mit dem Handrücken das Blut von Lippen und Kinn und ging auf den Eingang zu. Abgestandene, eisige Luft schlug ihm entgegen. Ray starrte in das undurchdringliche Schwarz, und seine Beine bewegten sich wie von selbst, trugen ihn immer weiter weg von dem Feuer, das jetzt nur noch ein flackernder Schein auf der felsigen Tunnelwand um ihn herum war.
Er streckte seine Arme vor sich aus und arbeitete sich Schritt für Schritt immer tiefer in das schwarze Herz des Berges vor. Der Hall der Stimmen hinter ihm erstarb und wurde ersetzt vom Geräusch des Wassers, das hier und da aus der Schwärze über ihm herabtropfte, und von dem leisen Echo seiner eigenen, schlurfenden Schritte. Mit jedem Schritt wurde es wärmer, die Luft immer schwerer von der zunehmenden Feuchtigkeit.
»Ray«, kam eine Stimme aus allen Richtungen gleichzeitig.
»Tina?« Er drehte sich einmal um seine eigene Achse, konnte in der Finsternis aber nicht das Geringste erkennen. Dann blieb er stehen und lauschte angestrengt in die Stille.
Plipp .
Ein warmer Hauch strich über seine Wange, und er konnte ihren süßen Atem riechen.
Plopp .
Rays Herz trommelte in seinen Ohren, viel zu laut, und die abgestandene Luft wütete in seiner Brust, als wolle sie seine Lunge zerreißen.
»Ray«, flüsterte die Stimme wieder, zog jeden einzelnen Buchstaben in die Länge.
»Tina!«, schrie Ray und spurtete los. Es war ihm vollkommen egal, dass er jeden Moment gegen eine Felswand knallen oder stolpern und sich alle Knochen in seinem Körper brechen konnte. Er brüllte nur immer noch lauter, bis seine Stimme endlich den Hall seiner polternden Schritte übertönte. »Tina!«
Seine linke Schulter streifte die Wand, der raue Fels zerriss sein Sweatshirt und die darunter liegende Haut. Wie eine Billardkugel prallte Ray von Wand zu Wand, verschmierte sein Blut auf den Felsen, bis der Tunnel schließlich geradeaus verlief und er ungehindert immer tiefer hinein in die Dunkelheit rennen konnte.
»Tina! Wo bist du?«, brüllte er, und plötzlich klangen seine Worte hohl, ihr Echo kam von weit weg, verlor sich im Nichts.
Ray verlangsamte seine Schritte, blieb schließlich stehen und stützte sich mit den Händen auf die Oberschenkel, um wieder zu Atem zu kommen.
»Bitte«, wimmerte er und sank auf die Knie. »Bitte, lass mich nicht allein … nicht hier.«
»Du wirst nie wieder alleine sein«, flüsterte die Stimme. Er fühlte, wie etwas Warmes seine Lippen streifte.
»Ich kann nicht mehr so weitermachen. Nicht ohne dich …«
»Du musst jetzt stark sein, Ray. Sie brauchen deine Kraft.«
»Tina, bitte … ich möchte bei dir sein …«
»Das wirst du, bald, Liebster. Aber vorher musst du noch etwas tun.«
»Okay, erklär’s mir … bitte. Ich tue alles, damit ich wieder bei dir sein kann.«
Seine rechte Hand wurde warm, und er fühlte eine unsichtbare, tröstende Berührung, die seine Hand auf den Boden vor ihm zog.
»Benutze es, sobald die Zeit gekommen ist«, flüsterte die Stimme.
»Tina, bitte … woher soll ich wissen, wann dieser Zeitpunkt gekommen ist?«
»Du bist der Kleinste, Ray. Du wirst wissen, wann es so weit ist.«
Das Flüstern wurde zu einer leichten Brise, die ihn kurz umschwirrte wie eine Miniatur-Windhose, dann verschwand sie.
»Tina?«
Er wartete, wusste aber tief in seinem Inneren, dass er keine Antwort bekommen würde.
»Lass mich nicht allein!«, schrie er, aber seine Worte verhallten in der endlosen Dunkelheit, zurück blieb nur das Echo seiner Stimme, das ihn verspottete.
Ray zuckte zusammen, als etwas Scharfes in seinen Finger schnitt. Seine Haut bot kaum einen Widerstand, Blut quoll tropfend aus der Wunde. Vorsichtig ertastete er die Form des Gegenstands, der da vor ihm auf dem Boden lag.
»Bitte, verlass mich nicht«, stöhnte er. »Nicht noch
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