Sturm der Seelen: Roman
darauf bedacht, nicht entdeckt zu werden. Als es direkt unter ihnen war, schloss es seine Augen und hielt erneut den Atem an.
Sie hatten es gehört, daran bestand kein Zweifel, aber sie wussten nicht, wo es war. Dem Klang ihrer Stimmen nach zu urteilen, spähten sie gerade über seinen Kopf hinweg von dem Felssims herunter, tiefer hinein in die Dunkelheit der Höhle. Sie mochten es gehört haben, aber sie konnten es immer noch nicht sehen, selbst jetzt, da es direkt unter ihnen war.
Nur noch wenige Meter lagen zwischen ihnen, und es kletterte weiter. Sie würden es zweifellos bald hören können, aber dann wäre es bereits zu spät.
Es war jetzt so nahe, die Witterung seiner Beute so stark, dass es kaum noch an sich halten konnte. Es wusste selbst nicht, warum, aber es brauchte frisches Blut, und das war das Einzige, was zählte.
Dann spannte es die Muskeln in Armen und Beinen und machte sich bereit, über die Kante auf das Sims zu springen, als die Stimmen plötzlich von links kamen, von der steinernen Treppe, auf der sie jetzt hinunter zum Boden der Höhle gingen. Einer nach dem anderen gingen sie unter ihm vorbei, weniger als einen Meter entfernt, und es konnte hören, wie fünf von ihnen zu dem Pueblo hinübergingen, vorsichtig und leise in der irrigen Annahme, sie hätten tatsächlich noch eine Chance.
Der eine jedoch, nach dem es gesucht hatte, war immer noch dort oben auf dem Sims, zusammen mit zwei weiteren, und sie alle waren verwundet. Leichte Beute. Einer roch, als wäre er den Fängen des Todes gerade noch einmal entronnen, doch jetzt schien er sich von Sekunde zu Sekunde zu erholen. Der andere stank am ganzen Körper nach Angstschweiß. Doch der dritte … er roch, als würde er gut schmecken.
Jede Faser in seinem Körper bis zum Zerreißen gespannt, wartete es, bis die Schritte der anderen auf der gegenüberliegenden Seite der Höhle angekommen waren. Ein Zittern durchlief seinen muskulösen Körper und brach als leises Zischen aus seinem Rachen hervor. Es hörte den entsetzten Aufschrei seiner Beute, dann sprang es über die Kante. Auf den Hinterbeinen landend, blähte es seinen zitternden Kehlsack auf und riss sein breites Maul auf. Mehrere Reihen rasiermesserscharfer Zähne blitzten auf, Tropfen von Speichel sprühten aus seinem Rachen, dann spreizte es seine Klauen und ging auf sie zu.
Das Licht aus seinen jetzt weit aufgerissenen Augen fiel auf seine Beute und warf ihre sich ängstlich duckenden Schatten auf die Felswand hinter ihnen.
Es fauchte und zischte, endgültig vom Jagdfieber überwältigt.
Schritte näherten sich eilig von der anderen Seite der Höhle, aber sie würden zu spät kommen. Viel zu spät.
Es konzentrierte sich auf seine Beute und sprang, bereit, seine Klauen in Fleisch und Gewebe zu schlagen, um das köstliche Blut zu trinken.
LXXI
MORMON TEARS
Als Ray sagte, er habe etwas gehört, wusste Phoenix bereits, was es war. Er hatte es schon lange gespürt, eine Präsenz, die er nur allzu gut kannte. Sie war der Quell all des Leides gewesen, das er hatte ertragen müssen, die Ursache jedes Albtraums, den er durchlebt hatte. Sie verbreitete eine Atmosphäre von Schmerz und Furcht, die Phoenix den Schweiß aus den Poren trieb und ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Selbst über den Tod hinaus blieb sie unverkennbar. Schon als er seinen Pickel in das damals noch menschliche Gesicht gebohrt hatte, hatte er gewusst, dass dies nicht ihre letzte Begegnung sein würde.
Es war der Mann, auch wenn er jetzt eine andere Gestalt angenommen hatte.
Phoenix kam schwankend auf die Beine. Er hatte fast seine gesamte Lebenskraft darauf verwendet, die Wunden seiner Freunde zu heilen, und jetzt war er vollkommen erschöpft, genauso wie damals, wenn der Mann ihn mit dem Schwarm heimgesucht hatte. Nur dass der Mann jetzt der Schwarm war. Der letzte Überlebende der Armee der Verdammten, und sein Verlangen, seine Obsession, hatte über den Tod hinaus Bestand bis in seine neue Existenzform hinein. Der Mann hatte immer zu Phoenix gesagt, er würde ihm gehören. Er hatte gesagt, er würde niemals zulassen, dass jemand ihn ihm wegnimmt. Doch hatte Phoenix die schicksalhafte Bedeutung dieser Worte erst begriffen, als der Mann seine eigene Tochter mit seinem Blut erstickte als Strafe dafür, dass sie versucht hatte, Phoenix zu befreien. Es überraschte ihn nicht, dass die unstillbare Gier und der grenzenlose Neid des Mannes ihm selbst durch das Reich der Toten gefolgt waren, genauso
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