Sturm der Seelen: Roman
wenig wie die Tatsache, dass er aufgrund seiner Obsession den Rest des Schwarms überlebt hatte und ihn noch immer verfolgte. Phoenix hatte immer gewusst, dass es eines Tages so weit kommen würde, dass sie eines Tages einander in der Welt der Sterblichen gegenüberstehen würden in einer Auseinandersetzung auf Leben und Tod. Aber Phoenix wusste, welches Schicksal falsche Propheten ereilte. Auch Richard hatte sich voll und ganz den Verlockungen der Macht ergeben, und Gott allein wusste, zu was er jetzt geworden war. Mit dem Mann war es nicht anders. Als das Ende kurz bevorstand, hatte er sich in einem letzten Versuch, seine Macht zu konservieren, mit Hammer und Nagel die Wundmale Christi zugefügt, um den Schwarm zu täuschen. Und jetzt hatte er seine Herde verloren.
Auf eine gewisse Art hatte Phoenix Mitleid mit ihm. Vor langer Zeit war der Mann einmal ein Priester Gottes gewesen, ganz egal, wie verfehlt seine Methoden und Beweggründe auch gewesen sein mochten. Er hatte jenen Hoffnung gebracht, die selbst keine mehr sahen, und sie ins Licht geführt. Seine Torheit hatte darin bestanden, sich selbst zum Objekt ihrer Anbetung zu erheben, anstatt sie dem Allmächtigen zukommen zu lassen, dem sie eigentlich gebührte. Aber vielleicht gelang es Phoenix, den Mann zurückzuführen in die vergebenden Arme Gottes, in Kontakt zu treten mit seiner Seele, die einst den Ruhm Gottes gekannt hatte.
Die anderen rannten bereits die steinerne Treppe hinunter zu der Stelle, wo sie das Zischen gehört hatten, auch wenn sie keine Ahnung hatten, was sie tun sollten, falls sie die Kreatur tatsächlich dort unten fänden.
Phoenix verzog den Mund zu einem Hauch von einem Lächeln. Seine Freunde waren dort unten weit besser aufgehoben als hier oben. Der Mann war wegen ihm gekommen, und nur wegen ihm.
Ray lauschte immer noch angestrengt in die Dunkelheit und versuchte, unter dem Getrampel der anderen etwas zu hören. Missy stand neben ihm und stützte Phoenix.
»Warum geht ihr beide nicht hinunter zu den anderen?«, fragte Phoenix und drückte sanft Missys Hand. »Es könnte sein, dass sie eure Hilfe brauchen.«
»Ich lasse dich nicht allein«, flüsterte Missy.
»Schhh.« Das war Ray, der wegen all des Lärms und des Getrampels um ihn herum nicht das Geringste hören konnte.
»Bitte …«, flüsterte Phoenix in Missys Ohr.
Sie starrte ihn nur an, und Phoenix sah den Schmerz in ihren Augen. Es tat ihm in der Seele weh, dass seine Worte sie verletzt hatten, aber das war ein denkbar kleiner Preis im Vergleich dazu, sie der herannahenden Gefahr auszusetzen.
»Nein«, erwiderte sie. »Sieh dich doch an. Du kannst kaum stehen, und ich werde dich nicht …«
»Schhh!«, machte Ray noch einmal, diesmal lauter. Er hatte das Gefühl, er habe …
Mit einem Zischen wie von einem leckgeschlagenen Gastank kam die schwarze Kreatur über die Felskante gesprungen und landete direkt vor ihnen. Ray taumelte zurück und stolperte über seine eigenen Füße, während Phoenix Missy zur Seite schob, doch leider nicht so weit, wie er es gewollt hatte.
Die Kreatur senkte ihren Kopf und machte sich bereit zum Angriff. Ihr Kehlsack entfaltete sich zitternd, und sie streckte ihre klauenbewehrten Arme weit zu beiden Seiten aus. Phoenix musste die Narbe auf seiner Augenbraue und das Loch in seiner Wange, durch das seine Fangzähne hindurchschimmerten, gar nicht erst sehen, um zu wissen, wer dieses Ding war. Denn in den Augen der Bestie brannten immer noch derselbe Wahnsinn und dieselbe Gier. Selbst als Mensch hatte der Mann Phoenix stets angestarrt wie ein ausgehungerter Straßenköter, der vor dem Schaufenster eines Fleischers steht.
»Ich vergebe dir«, sagte Phoenix flüsternd. »Für all die Schmerzen, für all die Jahre, die du mich in Dunkelheit gesperrt hast, und für die Frau … Ich vergebe dir.«
Seine einzige Reaktion war ein Fauchen. Speichel spritzte in Phoenix’ Gesicht, und mit über den Felsen schabenden Klauen machte das Ding einen weiteren Schritt auf ihn zu.
Unten begannen die anderen zu schreien, während sie zurück zur Treppe liefen, um Phoenix zu Hilfe zu eilen.
»Ich weiß, dass deine Absichten einst rein und edel waren. Du gabst den Menschen das größte aller Geschenke. Du gabst ihnen Hoffnung. Wende deinen Blick nach innen und schaue hinter all den Hass und den Zorn, der dein Herz vergiftet …«
Es fauchte nur noch lauter, dann stürzte es sich auf Phoenix, um nur wenige Zentimeter vor ihm noch einmal innezuhalten. Phoenix
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