Sturm der Seelen: Roman
einer Tankstelle mitten im Nirgendwo Halt gemacht hatten, um an Benzin zu kommen. Noch bevor diejenigen, die sich in die Dunkelheit des kleinen Shops gewagt hatten, bis oben hin beladen mit Lebensmitteln zurück waren, hatte er bereits fertig getankt und saß mit einer Zigarette zwischen seinen Fingern wieder auf dem Fahrersitz, als der Junge aufwachte und etwas von hinten rief:
»Der Krieg kommt!«, schrie er. »Sie werden aus dem Schnee kommen und uns alle töten!«
Bis gerade eben hatte Richard keinen weiteren Gedanken darauf verschwendet. Zugegeben, die Worte und vor allem der Ausdruck in der angsterfüllten Stimme des Jungen hatten ihm eine ordentliche Gänsehaut beschert, trotzdem war es für ihn nichts weiter gewesen als der Albtraum eines kleinen Kindes. Nach allem, was er wahrscheinlich durchgemacht hatte, hätte es Richard mehr überrascht, wenn der Kleine keine Albträume gehabt hätte. Aber jetzt hatte der Junge sie zu diesem Ort aus seinen Träumen, nach Mormon Tears, geführt, was ihn um einiges glaubwürdiger erscheinen ließ. Was also, wenn das, was der Junge gesagt hatte, tatsächlich stimmte? Dann stünden ihnen weitere Kämpfe bevor. Und was wäre der beste Weg, um diese unbeschadet zu überstehen? Sich zum Anführer der Gruppe machen, natürlich. Oder hatte Präsident Wallace etwa am Bug der USS Talon gestanden, als die U-Boote im Persischen Golf sich bereitmachten, ihre Atomraketen abzufeuern? Hatte man Truman gefesselt und an Bord der Enola Gay gebracht, als sie in Richtung Hiroshima abhob? Auch Franklin D. Roosevelt hatte die Invasion Europas nicht in seinem Rollstuhl angeführt. Sie alle waren die ganze Zeit über tausende von Meilen hinter der Front gewesen, beschützt von einer ganzen Armee, die ihnen Tag und Nacht zur Verfügung stand. Der sicherste Ort in einem Krieg war der Stuhl jenes Mannes, der seine Blechsoldaten in den Tod schickte. Und es war nur angemessen, wenn er der Anführer dieser Gruppe werden würde, schließlich war er Kongressabgeordneter. Früher oder später wäre er ohnehin im Oval Office gelandet, aber jetzt war vom Weißen Haus wahrscheinlich nicht mehr sehr viel mehr übrig als ein paar rauchende Grundmauern. Was ihn jedoch nicht aufhalten würde – wahre Macht kommt von innen und gewinnt die Massen für sich, völlig unabhängig von den äußeren Umständen. Für Normalsterbliche ist sie schwer zu fassen, man kann sie nicht greifen, doch alles, was Richard tun musste, war, seine Arme auszubreiten und dieses Vakuum zu füllen. Eine Herde braucht einen Anführer, das gehört zu ihrer Natur. Ansonsten stehen ihre Mitglieder nur nutzlos herum und warten, bis jemand kommt und sie antreibt.
Sein Los war es, dieser Antreiber zu sein. Ob ihnen ein Krieg bevorstand oder nicht, war völlig irrelevant. Sollte eine Armee sich gegen sie erheben, würde er seine Soldaten reinen Gewissens in den Tod schicken. Sollte dieser Fall nicht eintreten, hatte Macht auch andere Vorteile. Vielleicht könnte er eine neue Weltordnung errichten, mit ihm selbst als Kaiser oder gar Pharao, und andere schuften lassen, damit sie ihm Denkmäler errichten. Die Sache hatte noch weitere angenehme Aspekte: Wenn das Essen knapp wurde, für wen wurde wohl die letzte Ration aufgehoben? Wenn das Trinkwasser ausging, wer entschied über die Verteilung der letzten Reserven? Und wenn es an der Zeit war zu sterben, wer blieb da am längsten verschont?
Es war alles eine Frage des Timings. Er würde sie bald um sich scharen müssen, aber er hatte keine Möglichkeit, sie dazu zu zwingen. Die Herde brauchte jemanden, der sich aus sich selbst heraus zum Anführer erhob, und deshalb musste er sie beobachten, um herauszufinden, ob jemand dies bereits getan hatte. Und falls das der Fall war, würde ihn das nicht im Geringsten abschrecken. Er müsste eben nur ein bisschen sorgfältiger planen. Nichts war leichter, als jemanden in den Augen der Massen zu diskreditieren, und jeder war anfällig für die Tücken des Schicksals. Richard war Politiker, verdammt nochmal; andere Leute in ein schlechtes Licht zu setzen, das war für ihn so normal wie furzen. Bis jetzt konnte er allerdings kein Alphatier ausmachen.
Wenn er jedoch wollte, dass diese Menschen für ihn in den Tod gingen, musste er mehr sein als nur ihr »politischer« Führer. Dazu brauchte es stärkere Emotionen, so etwas wie einen Schlachtruf, der sie alle auf ihn einschwor. Er musste die Herde glauben machen, dass er mehr war als nur ein Mensch.
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