Sturm der Seelen: Roman
Schließlich hatten fast alle frühen Zivilisationen ihre Herrscher für Götter oder zumindest göttlicher Abstammung gehalten. Wenn sie ihm blind folgen sollten, mussten sie ihn für so etwas wie die Wiedergeburt Christi halten.
Links von ihm flirtete ein Junge, der aussah, als hätte er in seinem ganzen Leben noch nie die Sonne gesehen, ungeschickt mit einem Mädchen, das eigentlich viel zu hübsch für ihn war, aber anscheinend stimmte die Chemie zwischen den beiden. Sie mussten beide noch Teenager sein, und außerdem nahm keiner aus der Gruppe besondere Notiz von ihnen, also waren sie auch keine Bedrohung.
Rechts von ihm standen die Leute in mehreren kleinen Trauben beisammen, dazwischen ein paar Versprengte, die entweder allein sein wollten oder gerade dabei waren, all ihren Mut zusammenzunehmen, um sich einer der Gruppen anzuschließen. Die Blondine, mit der er gekommen war, hatte mittlerweile verbundene Füße und schien sich in der Aufmerksamkeit zu sonnen, die die anderen ihr widmeten, indem sie ihr Wasser, Essen und warme Kleidung brachten. Dann gab es da noch zwei Männer in voller Armymontur, aber keiner der beiden strahlte die angemessene Autorität aus, die ihnen ihre Uniformen eigentlich hätten verleihen müssen. Nur mit der Frau schienen sie erstaunlich gut umgehen zu können. Vielleicht Sanitäter. Der Einzige, der als potenzieller Mitbewerber in Frage zu kommen schien, war der Mann mit dem Anhänger, der wiederum durchaus eine geeignete Kommandozentrale darstellte. Mit einer Schrotflinte auf seinem Schoß saß er auf dem kleinen Ausklapptreppchen seines Anhängers, die anderen alle um ihn herum und ihm zugewandt, als wäre er ihr Zentrum. Und auch wenn er sich nicht als Richards direkter Gegenspieler herausstellen sollte, war er auf jeden Fall die erste Wahl als Verbündeter. Je länger Richard noch abwartete, desto mehr Macht würde der Mann mit der Schrotflinte auf sich vereinigen, sei es durch sein bewusstes Bemühen oder durch sein bloßes Auftreten. Er musste etwas finden, mit dem er sie alle vereinigen und ohne Wenn und Aber in seinen Dienst stellen konnte. Und das schnell …
Der kleine Junge, der sie hierhergeführt hatte, kam gerade aus der Höhle, einen Teller in der einen, seine Mutter an der anderen Hand.
Richard lächelte.
Ein Kinderspiel. Er warf seinen Teller weg, stand auf und suchte sich den geeignetsten Platz aus. Mitten auf dem Strand stand ein alter weißer Ford. Ein Lieferwagen. Zielstrebig ging er darauf zu. Die Blicke, die ihm dabei folgten, bemerkte er gar nicht. Warum war er nicht schon früher darauf gekommen? Wie ließen sich Menschen am besten anstacheln?
Durch Angst.
Angst vor dem Unbekannten war zweifellos eine starke Triebfeder, aber noch stärker war die Angst vor der Bedrohung, die man bereits kannte. Jeder dieser Überlebenden hatte mit Sicherheit gesehen, was diese mutierten Reptilienmenschen anrichten konnten. Das sollte mehr als genug sein, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen.
Richard setzte einen Fuß auf den Vorderreifen des Lieferwagens und kletterte auf die Motorhaube, die sich mit einem metallischen Ploppen unter seinem Gewicht nach unten durchbog. Er zog sich seine Krawatte von der Stirn und legte sie sich um den Hals, ohne sich noch lange damit aufzuhalten, sie zuzubinden. Dann leckte er sich mit der Zunge über die Handflächen, um sich mit seinem Speichel die Haare glattzustreichen, und räusperte sich.
»Sie alle, hören Sie mir zu!«, rief er. All die gemurmelten Gespräche brachen fast unverzüglich ab, und Richard wartete, bis auch die letzten Stimmen verstummt und alle Augen auf ihn gerichtet waren. »Uns bleibt keine Zeit mehr. Diese Kreaturen sind immer noch hinter uns her.«
Das war alles. Jetzt wartete er auf die Reaktionen. Schon durchbrachen die ersten Schluchzer die Stille, in der ansonsten nur das leise Heranrollen der Brandung zu hören war. Der Köder war ausgelegt.
»Wir müssen uns für die Schlacht bereitmachen, oder dieser Strand wird bald rot sein von unserem eigenen Blut.« Er richtete seinen Blick auf den kleinen Jungen und senkte bewusst die Stimme, um auch wirklich die volle Aufmerksamkeit aller Anwesenden zu haben. »Der Krieg kommt. Sie werden aus dem Schnee kommen und uns alle töten.«
X
MORMON TEARS
Adam war wie hypnotisiert von dem Mann auf der Motorhaube. Er wurde das Gefühl nicht los, dass er ihn irgendwo schon einmal gesehen hatte, aber er konnte partout nicht sagen, wo. Mit dem maßgeschneiderten
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