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Sturm der Seelen: Roman

Sturm der Seelen: Roman

Titel: Sturm der Seelen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael McBride
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sie wieder zu ihm aufgeschlossen hatten, konnten sie erkennen, was der tatsächliche Grund dafür war.
    Ray stand in einer gigantischen Höhle, so groß, dass der Lichtschein ihrer brennenden Äste nicht einmal die Decke erreichte. Als Norman den Felsendom betrat, stieß er einen leisen Pfiff aus, und das Echo brauchte eine ganze Weile, bis es durch die Dunkelheit einen Weg zu ihm zurück fand.
    Die Höhle sah jetzt vollkommen anders aus, selbst in dem wenigen Licht, das ihre Fackeln abstrahlten. Ray hatte geglaubt, er wäre zuvor bis zu ihrer Mitte gegangen, doch jetzt stellte er fest, dass er nur bis zum Ende eines kleinen Felsbandes gekommen war, von dem aus sie jetzt auf die riesige Höhle blickten. Das Messer, das er in die Bauchtasche seines Kapuzensweatshirts gesteckt hatte, musste fast direkt an der Kante gelegen haben. Ein paar Schritte weiter, und er wäre zehn Meter tief in den Abgrund gestürzt. Er stellte sich vor, wie seine zerschmetterten Knochen durch seine Haut ragten und er dort unten lag und darauf wartete, dass jemand ihn hören würde – im vollen Bewusstsein, dass seine Schmerzensschreie niemals bis zu ihnen durchgedrungen wären. Aber Tina hätte das niemals zugelassen … oder doch? Seine Begegnung mit ihr kam ihm mehr und mehr vor wie eine Fantasie aus einem Fiebertraum. War sie wirklich bei ihm gewesen, oder war sie die erste Vorbotin seines beginnenden Wahnsinns?
    »Was ist das?«, fragte Adam und deutete in die Dunkelheit vor ihnen, die so schwarz war wie ein Tümpel aus Teer.
    »Was meinst du?«, erwiderte Norman. Er konnte nicht das Geringste erkennen.
    »Da drüben«, sagte Adam und deutete hinaus in die Finsternis. Ganz am Rande des Lichtscheins war ein glattes Stück Felswand zu erkennen, das so aussah, als ragten abgesägte Telefonmasten daraus hervor.
    Ihre Äste waren mittlerweile ziemlich heruntergebrannt, trotzdem wagten sie sich weiter vor und gingen vorsichtig über die Stufen, die von ihrem Felsvorsprung herunterführten, hinunter bis zum eigentlichen Boden der Höhle. Adam ging voraus, und im Licht seiner Fackel konnten sie auf dem glatten Felsuntergrund senkrecht nach oben ragende Tropfsteine erkennen, die beinahe ebenso groß waren wie sie selbst. Hier und da tropfte Wasser von der Decke, und etwas zu ihrer Linken schien den Schein ihrer Fackeln zu reflektieren. Ein Schimmern, als wäre dort Wasser. Direkt vor ihnen nahm die Wand, die sie von dem Felsvorsprung aus gesehen hatten, langsam genauere Konturen an. Sie war eindeutig von Menschenhand gemacht, eine Komposition aus Linien und Rechtecken, errichtet vor der Rückwand der Felsengrotte. Was im ersten Moment ausgesehen hatte wie grobe Ziegel, stellte sich jetzt als eine mit Lehm verputzte Konstruktion aus Stroh und Holzpfählen heraus. Im untersten Stockwerk des Bauwerks schien es weder Fenster noch einen Eingang zu geben, aber sie sahen mehrere von Stricken zusammengehaltene Leitern an der Wand lehnen.
    »Was glauben Sie, wie alt das hier ist?«, fragte Ray und befühlte einen der vielen Risse in der mit Lehm verputzten Wand vor ihnen, woraufhin ihm der Lehm sofort als Staub auf die Füße rieselte.
    »Auf jeden Fall mehrere hundert Jahre«, sagte Norman. »Ich glaube, die Gosiute und die Shoshone haben früher in dieser Gegend gelebt.«
    »Und wozu haben sie das hier gebaut?«, fragte Adam. »Ich meine, ich habe bewohnte Höhlen gesehen und auch schon jede Menge Pueblos, aber die standen alle im Freien. Von einem Pueblo in einer Höhle habe ich noch nie etwas gehört.«
    »Ich weiß, warum«, meldete Ray sich wieder zu Wort.
    Adam und Norman drehten sich um. Ray stand mit dem Rücken zu ihnen und starrte auf die Felswand direkt neben dem Pueblo. Mit seiner Fackel deutete er auf den mit einer dicken Staubschicht bedeckten Fels. Erst jetzt, als er den brennenden Ast ganz dicht davorhielt, konnten sie die Kreidezeichnungen darunter erkennen.
    »Heilige Scheiße«, murmelte Adam und starrte auf die Zeichnung eines Mannes mit Schlangenkopf und schwarz-gelb marmorierten Augen. Ein roter Kinnlappen hing vom Hals der Kreatur herab, aber das, was Adams Herz rasen ließ und ihm die Kehle derart zuschnürte, dass er kaum noch Luft bekam, war die Zeichnung daneben:
    Ein mit Kreide gefertigtes Konterfei seines eigenen Gesichts starrte ihm durch die Jahrhunderte entgegen.

XI
     
    MORMON TEARS
     
    Gray Ciccerelli saß auf dem Ausklapptreppchen des Campinganhängers und beobachtete den Mann, der auf der Motorhaube dieses

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