Sturm der Seelen: Roman
woanders wieder eingepflanzt hatte, mehr als ein paar längliche Blätter, von denen sie hoffte, dass sie Wurzeln schlagen und sich zu ausgewachsenen Pflanzen entwickeln würden, mehr als ein Unterwasser-Salatbeet. Dieser Seetang war nicht länger Unkraut, von dem man die Strände reinigen musste, damit die Touristen sich auch wohl fühlten, sondern ein Schatz, der sein Gewicht in Gold wert war …
Hoffnung.
VIII
IN DEN RUINEN VON DENVER, COLORADO
Tod stand an der Stelle des Raumes, wo sich einmal eine vom Boden bis zur Decke reichende Fensterfront befunden hatte, und blickte hinunter auf das, was von hier oben, der Spitze seines schwarzen Turms, aussah, als wäre es die ganze Welt. Wabernde Gewitterwolken verdunkelten die Sonne – das heißt, falls sie überhaupt noch existierte -, hier und da durchzuckten Blitze den verfinsterten Himmel. Außer der zu tödlichen Schlingpflanzen mutierten Vegetation war alles dort draußen tot. Keine einzige höhere Lebensform bewegte sich mehr zwischen hier und den Rocky Mountains, wo einst Millionen Menschen zuhause gewesen waren.
Der Schwarm ruhte sich in den unteren Stockwerken aus, versteckt in der Dunkelheit. Manche hatten sich in die Ventilationsschächte verkrochen, wo kein Sonnenstrahl ihren Schlaf stören würde, andere lagen zusammengepfercht in den zerstörten Büroräumen, den Toiletten, versteckt in den Zwischenräumen unter den Deckenverkleidungen. Je weiter sich ihre Art entwickelte, desto besser passten sie sich an. Ihr Sehvermögen hatte sich vervielfacht, und ihre Augen durchdrangen jetzt selbst die schwärzeste Dunkelheit, aber direktem Sonnenlicht hielten sie nun nicht mehr stand. Sie waren die perfekten Jäger, und bald würde er sie auf jenen aussterbenden Ast der Evolution hetzen. Die Erde verheeren, um danach wieder von neuem zu beginnen, wie sie es schon so oft getan hatten in ihren verschiedenen Inkarnationen.
Tod konnte nicht beurteilen, was Gott sich dabei gedacht haben mochte, als Er die momentan vorherrschende Spezies erschuf, denn niemandem stand es zu, Seinen Ratschluss zu hinterfragen. Er hatte die Menschheit nach Seinem Abbild erschaffen und dabei Kreaturen auf die Erde losgelassen, die sich selbst für Götter hielten, aber nicht imstande waren, die zerstörerische Seite ihres Wesens im Zaum zu halten. Er war ein liebender Gott, aber Er kannte auch Vergeltung, und als Er jene nach Seinem Abbild erschuf, gab er ihnen auch diese Eigenschaften. Menschen, sie konnten ein Küken behutsam in der einen Hand halten und es mit aufrichtig empfundener Ergriffenheit bewundern, nur um es im nächsten Moment mit der anderen Faust zu erschlagen. So lag es in der dichotomen Natur des Schöpfers selbst. Er hatte ihnen den Samen des Göttlichen eingepflanzt, und sie hatten ihn benutzt, um sich gegenseitig zu vernichten im Namen des Schöpfers, dem sie ihre unvollkommene Göttlichkeit verdankten. Die Vergeltung hatte der Liebe in ihnen den Krieg erklärt und sie vernichtet, was angesichts dessen, in wessen Abbild sie erschaffen waren, nur angemessen erschien.
Eine Schneeflocke, grau von all der Asche in der Luft, schwebte herein und landete sanft auf seiner Hand – eine zerbrechliche, kristallene Struktur auf Tods dichtem, schwarzem Schuppenkleid. Sie schmolz zu einem kleinen Tropfen Wasser, der wie eine Träne über sein Handgelenk in den Ärmel seines Mantels aus verwelkter Menschenhaut kroch. Mit jedem Hauch eisigen Atems aus seinem reptilienhaften Mund tauchten immer neue Schneeflocken am Himmel auf, das Weiß wurde dichter und dichter, und es würde noch mehr Schnee kommen, viel mehr, vorangepeitscht von dem heraufziehenden Sturm. Die Zeit war gekommen.
Der Winter war da.
BUCH ZWEI
IX
MORMON TEARS
Richard saß abseits von den anderen mit dem Rücken zum Felsen, die Beine vor sich ausgestreckt im Sand, einen Teller mit den Überresten seiner Bohnen auf dem Schoß. Von diesem Blickwinkel aus konnte er alle sehen bis auf ein paar wenige, die noch in der Höhle waren. Er wollte sich einen Überblick über die Zusammensetzung der gesamten Gruppe verschaffen, um die hierarchischen Strukturen analysieren zu können. Im Moment rotteten sie sich noch in kleinen, einzelnen Gruppen zusammen wie Familienclans. Der erste Schritt musste also sein, sie alle zu einer einzigen, großen Gruppe zusammenzuführen.
Er dachte an das, was der kleine Junge, mit dem sie unterwegs gewesen waren, gesagt hatte, als sie mit ihrem Lieferwagen gerade an
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