Sturm: Die Chroniken von Hara 4 (German Edition)
unterbrochen. Zu lange hatten wir beide aufeinander verzichten müssen …
Seit Shen seine Kraft mit meinem Augenstern geteilt hatte, war erst ein Tag vergangen, aber wir hatten uns bereits über vieles ausgetauscht, was geschehen war – und was möglicherweise geschehen könnte.
Auch über Ghinorha hatten wir gesprochen. Dabei stellte sich heraus, dass Lahen die Neuigkeit nicht weniger erstaunte als mich.
»Ich habe es zusammen mit dir erfahren, in dem Moment, als Thia dir davon erzählt hat. Ich konnte einfach nicht glauben, dass das wahr sein sollte. Aber allem Anschein nach hat Thia recht. Denn nach meinem … Tod hatte ich fremde Träume, Erinnerungen und Kenntnisse, wusste von Menschen, die ich nie zuvor gesehen hatte, von Orten, an denen ich nie gewesen bin, und von Zaubern, die mir niemand beigebracht hatte. All das ist plötzlich in meinem Gedächtnis gewesen, war mir fremd und zugleich doch meins. Das war seltsam. Als hätten sich Gespenster in meinem Kopf eingenistet.«
Mir fiel wieder ein, wie sehr sie sich in den Sümpfen der Ödnis gefürchtet hatte, in dieser Stadt, in der Ghinorha vor langer Zeit einmal gewesen war. Es muss in der Tat schrecklich sein, sich an etwas zu erinnern, das man nie erlebt hat. Da musste man ja unweigerlich glauben, den Verstand verloren zu haben.
»Was ist mit Ghinorha?«,
fragte ich.
»Ist sie noch bei dir?«
»Diese Frage kann ich nicht beantworten. Selbst wenn ich ein Teil von ihr bin oder sie ein Teil von mir ist, könnte ich nicht sagen, wo sie anfängt und ich aufhöre. Abgesehen natürlich von den Erinnerungen an Dinge, die ich nie erlebt habe.«
Lahen wusste nicht, welche Ziele sich Ghinorha eigentlich gesteckt hatte. Manchmal jagte es ihr Angst ein, dass sie sich selbst fremd geworden war und einen Teil einer anderen Persönlichkeit bildete. Einer Frau, die vor über fünfhundert Jahren geboren worden war und am Dunklen Aufstand teilgenommen hatte.
Erschreckte auch mich diese Vorstellung? Ehrlich gesagt, nein. Lahen lebte und war bei mir – allein darauf kam es mir an. Ob auch ein Körnchen Ghinorha in ihr steckte, war mir völlig einerlei.
Wir übernachteten in einer kleinen Stadt, die wie durch ein Wunder von den Horden der Nabatorer verschont geblieben war. Die feindliche Armee war etwas weiter östlich an ihr vorbeigezogen, und die beiden Spähtrupps, die die Gegend auskundschafteten, hatten sich aus irgendeinem Grund nicht an ihr vergriffen.
Uns hatten die Posten am Tor nur dank Mylord Rando eingelassen. Ich selbst hatte schon befürchtet, wir müssten unser Nachtlager wieder auf offenem Feld aufschlagen. Am Himmel prangte der Neumond, die Straßen waren dunkel, die kleine Garnison schwer bewaffnet. Die Soldaten führten uns zu einer Schenke in unmittelbarer Nähe des Stadttors. Sie war klein und eng, Gäste gab es keine: Schon seit Wochen waren hier keine Fremden mehr aufgetaucht. Deswegen empfing uns der Wirt mit Freude, zumindest anfangs. Als er unsere bunt zusammengewürfelte Gesellschaft allerdings erblickte, änderte sich das rasch. Er verbat sich strikt, dass Yumi – das
Tier,
wie er sich ausdrückte – seine Schenke betrat. Luk erklärte ihm daraufhin jedoch sogleich, wir würden uns eine andere Bleibe suchen, sollte man in dieser seinen allerbesten Freund beleidigen.
Wegen der sommerlichen Hitze standen die Fenster in der Schenke weit offen. Das Zirpen der Grillen war ebenso zu hören wie die Stimmen der Soldaten, die sich am Tor unterhielten.
Shen und Rona verzichteten auf das Abendessen und legten sich unverzüglich schlafen. Ga-nor wollte ebenfalls schon zu Bett gehen und wünschte Luk zum Abschied noch, er möge wenigstens einmal niemanden zum Würfelspiel finden. Dieser schnappte prompt ein und murmelte etwas davon, in diesem Nest könne man eh lange nach einem guten Spieler suchen. Hier gebe es doch bloß Kakerlaken.
Das Essen war, wie ich angenommen hatte, dreimal so teuer wie vor dem Krieg. Aber niemand von uns empörte sich darüber, daran waren wir alle längst gewöhnt. Außerdem hatte Mylord Rando beschlossen, uns einzuladen. Yumi erhielt die größte Schale, woraufhin er wie ein Spatz zu tschilpen anfing und hochzufrieden losschmatzte.
Rando bat darum, man möge uns noch Kerzen bringen, lehnte den Wein ab und ließ sich zu Luks unbeschreiblicher Freude auf ein Spiel mit ihm ein. Luk strahlte förmlich vor Begeisterung, als er Rando um einige Sol erleichtern konnte. Inzwischen ging das Spiel um einen ganzen Soren.
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