Sturm: Die Chroniken von Hara 4 (German Edition)
ein kleines Dachfenster fiel, reichte kaum aus, auch nur die Wand zu erkennen.
Den ganzen gestrigen Abend über hatte Algha damit zugebracht, einem rohen Wandbalken ein langes Scheit abzuringen. Doch selbst in dieser Zeit hatte sie das Werk nur halb vollendet. Sie hatte sich dabei einige Fingernägel abgebrochen und jede Menge Splitter eingefangen. Jetzt waren die Finger geschwollen und schmerzten bei jeder Berührung. Trotzdem machte sich Algha stur daran, ihr Werk abzuschließen. Schon nach wenigen Sekunden spürte sie, wie ihr Blut über die Hände floss.
Aber sie achtete nicht auf den Schmerz. Immer wieder huschte ihr Blick zu Mitha hinüber, die sich ruhelos im Schlaf wälzte. Seit dem Tag, da der Koloss erwacht war, hatte sie sich stark verändert. Sie sprach nicht mehr davon, dass sie sterben würden, weinte nicht länger den ganzen Tag, zuckte auch nicht mehr bei jedem Geräusch zusammen. Dafür hatte sie sich in sich selbst zurückgezogen und brachte oft stundenlang kein Wort heraus. Mitunter schüttelte sie ein grundloses, hässliches Lachen. In solchen Augenblicken fiel Algha in tiefste Niedergeschlagenheit. Deshalb redete sie inzwischen kaum noch ein Wort mit Mitha und hielt sich von ihr fern.
Ob Mitha nach den Ereignissen in Korunn den Verstand verloren hatte? Erstaunlich wäre es nicht. Algha selbst wäre vor Furcht ja beinahe irrsinnig geworden, als der Koloss am Fuß des Hügels gewütet und sie nur wie durch ein Wunder verfehlt hatte. Sie hatte den Eindruck gehabt, in glühendes Gold gehüllt zu sein. Dass dies ihr eigener Funken war, hatte sie zunächst gar nicht begriffen.
Denn das Werk des Skulptors tötete nicht nur Feinde, verbrannte nicht nur Funkenträger – es zerstörte auch fremde Geflechte wie ein scharfes Messer eine Schnur. Nichts und niemand konnte ihm Widerstand leisten. Nicht einmal die Kraft der Verdammten.
An die Stunde, als die Armee der Verdammten ausgelöscht wurde, erinnerte sie sich kaum noch. Ein grausamer Strahl kroch über die Erde, peitschte die Luft und verbrannte in einer blutroten Flamme Lebende wie Tote. Algha wurde von diesem Strahl geblendet und war kurz davor, in Panik auszubrechen. Nadel hatte sie dann am Kragen gepackt und fluchend hinter sich hergezogen. Mithilfe von Gritha.
Darauf folgte eine lange, ermüdende Flucht zu Pferd. Sie ritten nach Südwesten. Der Armreif hatte selbst da noch seine Kraft eingebüßt. Trotzdem konnte Algha ihre Gabe nicht einsetzen: Ihr Funken war noch zu verschreckt und antwortete ihr nicht. Cavalar – wer auch immer er gewesen sein mochte – hatte eine absolut vernichtende Waffe geschaffen.
Als ihre Gabe am Abend erneut in Algha erwachte, war es bereits zu spät. Der schwarze Armreif hatte sich mit neuer Kraft aufgeladen und trennte sie wie gehabt von ihrem Funken ab …
Ihre einzige Hoffnung stellte damit dieses Scheit dar, das sie dem Balken in der Holzwand abzuringen trachtete.
Mitha schrie leise im Schlaf, dann brach sie unvermittelt in Lachen – oder Weinen? – aus. Algha sah besorgt zu ihr hinüber und pustete sich auf die gemarterten Finger. Sie boten einen grausigen Anblick. Zuweilen meinte sie, selbst der Schmerz, den ihr Dawy zugefügt hatte, wäre lächerlich im Vergleich mit dem, den sie jetzt empfand. Sie wollte die Splitter mit den Zähnen herausziehen, aber das glückte ihr nicht. Im Gegenteil, es machte das Ganze nur noch schlimmer.
Und dann hielt sie endlich das Scheit in der Hand! Es war lang und spitz, fast eine Art Stilett, zudem unglaublich fest, fast als sei es aus Stahl, nicht aus Holz. Voller Wonne malte sich Algha aus, wie sie es einem ihrer Peiniger ins Bein rammte. Oder, falls sie Glück hatte, ins Auge.
Sie wunderte sich selbst über ihre Kaltschnäuzigkeit, schreckte jedoch nicht vor dieser zurück. Diese Menschen hatten den Tod verdient. Sie verfügten über den dunklen Funken, waren grausam und gingen über Leichen. Mitunter weigerte sich ihre, Alghas, Zunge sogar, diese Widerlinge als Menschen zu bezeichnen.
Sie verbarg die Waffe in den Falten ihres langen Rocks und wartete darauf, dass die Sonne endgültig aufging. Eine halbe Stunde später erwachte Mitha. Kaum schlug sie die Augen auf, spähte sie misstrauisch zu Algha hinüber. Diese hielt dem Blick stand und lehnte sich lässig gegen die Wand der Scheune.
»Sie haben mir meinen Funken geraubt und wollen mich töten«, sagte Mitha leise, während sie unter dem schwarzen Haar hervorlugte, das ihr wild in die Stirn
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