Sturm: Die Chroniken von Hara 4 (German Edition)
Plätschern vernahm, öffnete sie wieder die Augen. Fünf Sekunden später wiederholte sich das Geräusch, danach trat es in regelmäßigen Abständen auf. Algha erhob sich vorsichtig und spähte in den fernen Nebel. Schon bald machte sie eine dunkle Silhouette aus. Ein apartes Schiff bohrte sich durch den Nebel und hielt, durch wenige Ruderschläge dazu gebracht, mit der Grazie eines Schwans auf sie zu.
Als es vor der Insel stehen blieb, erkannte Algha die alte Nekromantin aus dem Regenbogental. Die, die sie umgebracht hatte. Die, die sie in ihren Träumen besuchte.
Kaum wollte Algha mit einem Zauber auf sie einschlagen, da erinnerte sie sich des Armreifs an ihrem Handgelenk. Ein leises, verzweifeltes Stöhnen entfuhr ihr.
Die Nekromantin ließ sich mit ihrem Angriff indes Zeit. Sie streifte die weiche Kapuze mit einer müden Geste von ihrem spärlichen, ausgeblichenen Haar zurück.
»Den Rest musst du nun ohne mich vollbringen. Ich kann dich nichts mehr lehren, Mädchen.«
Nach diesen Worten griff sie zu den Rudern und fuhr langsam in den Nebel hinein, der sich erneut verdichtete. Völlig verblüfft sah Algha ihr nach, unfähig, auch nur ein Wort zu sagen. Erst als die Nekromantin aus ihrem Blickfeld verschwunden war, gewann sie die Gabe der Rede zurück.
»Nicht?«, schrie sie. »Sag mir wenigstens noch, wie ich dieses Mistding loswerde!«
Sie fuchtelte mit der rechten Hand, erhielt jedoch keine Antwort. Das Plätschern wurde immer leiser, bis es am Ende ganz verstummte. Der Nebel hüllte sie wieder ein. Algha schrie verzweifelt, doch die wabernde Wand verschluckte wie zum Spott jedes ihrer Worte. Im nächsten Moment verlor Algha das Gleichgewicht und fiel in den eisigen schwarzen See des Vergessens …
Weinend fuhr Algha aus dem Schlaf. Einige lange Minuten starrte sie zu den Deckenbalken hoch, die in der Dunkelheit kaum erkennbar waren, und versuchte, das Ende ihres Traums zu vergessen.
Irgendwo da oben hatte eine große Spinne ihr aufwendiges Netz gewebt und wartete jetzt geduldig auf ihr Opfer. Bin nicht auch ich in einem klebrigen Netz der Verdammten gefangen?, schoss es Algha durch den Kopf. Aus dem ich nie im Leben wieder herauskomme …
Denn sosehr sie auch in den halb durchscheinenden, silbernen Fäden zappelte, sie verfing sich nur immer fester in diesem Gespinst. Der Armreif, den sie einfach nicht loswurde, verurteilte sie zum Tod, fesselte sie und verhinderte, dass sie ihren Funken anrief.
Ihr war nichts geblieben außer ihrer Sturheit, ihrem Stolz und dem Wunsch, bis zum letzten Atemzug zu kämpfen. Doch selbst das konnte ihr im Bruchteil einer Sekunde genommen werden – Mithas Schicksal hatte das bewiesen. Die Spinne bräuchte es bloß leid zu sein, ihr zappelndes Opfer zu beobachten, dann würde sie es töten.
Mit jedem Tag wuchs in Algha die Gewissheit, dass diese Stunde nahe sei. Blatter brauchte sie jetzt weniger denn je. Sie war eine Last, von der sich die Verdammte sicher bald befreien würde.
Warum Pest darum gebeten hatte, sie am Leben zu lassen, wusste Algha nicht. Es brauchte indes nicht viel Verstand, um zu begreifen, dass Blatter ihr Wort nicht halten würde. Vor allem jetzt nicht, da Pest tot war.
Und da sie, Blatter, klammheimlich durchs Land zog, nur von einer kleinen Einheit begleitet. Sie tötete erbarmungslos alle, die ihr auf der Flucht über den Weg liefen. Algha hatte mit eigenen Augen gesehen, was mit den wenigen kleinen Dörfern im Wald geschehen war, die sich auf Blatters Weg befunden hatten. Damit war auch sie eine weitere Zeugin …
Die Verdammte hatte den Wald, der eine natürliche Grenze zwischen dem Imperium und Morassien bildete und sich über fast hundert League von Norden nach Süden zog, bereits erreicht. Aus einem Gespräch zwischen Nadel und Gritha, das sie belauscht hatte, wusste sie, dass die Verdammte in zwei oder drei Tagen in Sicherheit sein würde. Dann dürfte Blatter wohl nicht länger zögern, sie zu töten. Nicht einmal das Wort, das sie dem toten Pest gegeben hatte, würde sie daran hindern. Falls das überhaupt je etwas für sie bedeutet hatte.
»Sei stark«, wiederholte sie sich immer wieder, fast als seien diese Worte ein Gebet. »Kämpfe bis zu deinem letzten Atemzug.«
Sie setzte sich abrupt im stinkenden Stroh auf und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen weg. In der Scheune, in der sie und Mitha für die Nacht untergebracht worden waren, herrschte Dunkel. Der Tag zog gerade erst herauf, und das fahle Licht, das durch
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