Sturm im Elfenland
schließlich. »Munir ist der Magier des Königs. Er hätte mich unterrichten können.«
»Zauberei ist aber doch verboten«, erinnerte Erramun ihn.
Ivaylo presste die Lippen zusammen. »Es ist falsch«, sagte er dann. »Ich habe die Fähigkeiten meiner Eltern geerbt. Ich könnte ein guter, starker Zauberer sein, wenn man mich ließe!«
»Der könntest du sein«, stimmte Erramun sanft zu.
Ivaylo sah ihn fragend an. Der Lehrer wirkte traurig und ein wenig ratlos. Er schien mit ihm zu fühlen. Ivaylo spürte einen Kloß im Hals. Zumindest Erramun schien er nicht gleichgültig zu sein!
»Lass uns nachsehen, was wirklich geschehen ist«, sagte Erramun schließlich. Erneut streckte er seinen Arm aus, und dieses Mal legte Ivaylo seine Hand in die des Lehrers. Beide schlossen die Augen und atmeten gleichzeitig tief ein und wieder aus. »Gut so«, murmelte Erramun. »Jetzt lass dich fallen. Es ist, als würde dein Körper einschlummern, aber dein Geist bleibt hellwach. Lass deine Augen geschlossen, aber sieh mich an. Deine Ohren hören nichts von dem, was um dich herum passiert, aber du lauschst meiner Stimme. Nur meiner Stimme.« Er schwieg einige Atemzüge lang. Dann setzte er leise hinzu: »Du siehst, hörst, riechst, schmeckst ‒ erinnerst dich!«
Ivaylo spürte, wie seine Muskeln sich entspannten, sodass er gegen die Lehne des Stuhls sackte. Sein Kopf fiel nach hinten. Er atmete tief und langsam. Schwebte er? Er hatte die Augen geschlossen, aber er konnte sich selbst sehen, wie er dort in den Stuhl geschmiegt saß, und Erramun, der seine Hand hielt.
Was für ein eigenartiges Gefühl, wollte er ausrufen, aber ihm fehlten die Lippen, um die Worte zu formen, der Atem, um sie auszusprechen. Körperlos schwebte er über seiner in den Sessel zurückgesunkenen Gestalt.
Als der Zustand ihn zu ängstigen begann, verspürte er einen festen Ruck, und dann war wieder alles an seinem Platz. Er dehnte leicht die Schultern, atmete ein und genoss das Gefühl der durch seine Nasenlöcher streichenden Luft.
Erramun schnalzte leicht mit der Zunge. »Jetzt schau zurück«, sagte er leise und scharf.
Und Ivaylo blickte zurück. Er hockte auf dem Dachgeflecht des Hauses und hörte, wie seine Mutter um sein Leben flehte. Er beobachtete, wie sein Vater sich schützend vor sie stellen wollte, und wie sie ihn beiseiteschob, um einen großen Elfen anzuflehen. Er sah, wie ein zweiter, dunkler Elf sie grob anfuhr. »Munir«, rief er erschreckt aus und bäumte sich auf.
»Still«, sagte eine Stimme besänftigend. »Das ist vorbei.« Jemand strich über seine Stirn und beruhigte den Aufruhr in seinem Kopf. Ivaylo zwang sich, das Bild erneut zu betrachten. Munir, es war wirklich Munir, der Audra festhielt. Und der Große, der seinen Vater mit kaltem Blick musterte, das war Auberon, der König selbst!
Ivaylo unterdrückte ein Stöhnen. Die Jäger. Sie hatten ihn entdeckt. Sie würden ihn töten!
Wieder beruhigte ihn die Berührung einer warmen Hand. »Was geschah dann?«, fragte die Stimme.
Ein langer Ritt, er war kaum bei Bewusstsein. Ein steinernes Zimmer, in dem er vor Angst schreiend zu sich kam. All diese festen, dunklen Wände um ihn herum! Stein und noch mal Stein, kein Licht, keine Luft, keine Bäume, die sich leise flüsternd bewegten. Er schrie und schlug um sich und die Hände hielten ihn fest.
Zitternde Atemzüge. Ivaylo erinnerte sich an den Königsstein. Munir verbrachte jeden Tag Zeit mit ihm. Dann war er allein, weil der Zauberer im Land unterwegs war. Er streifte durch das Königsschloss und suchte nach seinen Eltern. Wo waren sie? Sie mussten doch irgendwo hier sein!
Lange Zeit. Lange Zeit. Er wurde müde. Es war so schwer, sich zu erinnern. Schlafen.
Als Ivaylo erwachte, fiel sein Blick auf den Kamin. Das Feuer war heruntergebrannt, und nur noch rötliche Glut glomm auf dem Rost. Erramun saß in seinem Stuhl, ein Feenlicht schwebte über seiner Schulter. Er klappte das Buch zu, in dem er gelesen hatte, und sah Ivaylo aufmerksam an. »Wie geht es dir?«
Ivaylo rieb sich den steifen Nacken. »Gut, glaube ich. Kann ich etwas zu trinken haben?«
Der Lehrer schenkte einen Becher Wasser ein und reichte ihn Ivaylo. Der trank und spritzte sich ein paar Tropfen ins Gesicht, um wach zu werden. Erramun wartete geduldig.
»Woran erinnerst du dich nun?«, fragte er, als Ivaylo den Becher abstellte.
Ivaylo legte das Kinn in die Handfläche und dachte nach. Dann schüttelte er den Kopf. »Es ist zu viel, das ich nicht
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