Sturm im Elfenland
daran, wie du dorthin gelangt bist?«
Ivaylo verneinte. »Ich glaube, dass Jäger mich aufs Schloss brachten«, sagte er zögernd. »Aber ich bin mir nicht sicher.«
»Munir hat es dir nicht verraten?« Erramun schien den Namen des Zauberers nicht ohne einen spöttischen Unterton aussprechen zu können.
Ivaylo faltete die Hände und legte das Kinn darauf. »Ich erinnere mich kaum an meine Zeit auf dem Königsstein. Es ist, als hätte ich das Jahr im Halbschlaf verbracht.«
Erramun nickte, als hätte Ivaylo etwas bestätigt, was er bereits vermutet hatte. Er beugte sich vor und hielt Ivaylo seine offene Hand hin. »Darf ich versuchen, deine Erinnerungen zu finden?«
Ivaylo schreckte zurück. »Wie?«, fragte er voller Misstrauen.
Erramun ließ die Hand nicht sinken. »Ich werde nichts tun, was dich verletzt. Ich werde auch nicht in deine Gedanken eindringen.« Er hielt Ivaylos Blick gefangen. Aus seinem Gesicht sprach nichts als Aufrichtigkeit. »Aber vielleicht muss ich dir zuerst von mir erzählen. Du kennst mich nicht, ich bin dir fremd.«
Er lehnte sich wieder zurück und legte die Hand auf die Armlehne des Stuhls. Seine andere Hand ruhte entspannt in seinem Schoß. Ivaylo sah die vertraute Bewegung, mit der Erramuns Daumen über die Handfläche rieb.
»Ich bin deinen Eltern hier in Gondiars Haus begegnet«, begann er zu sprechen. »Das war vor deiner Geburt, Ivaylo. Sie waren oft zu Besuch, bis Farran und Gondiar sich zerstritten. Das Zerwürfnis war ernst, und ich habe damals nicht begriffen, worum es dabei ging. Inzwischen glaube ich es zu wissen.«
Ivaylo griff nach seinem Sternenstein, wie immer, wenn er aufgeregt oder voller Angst war. »Was ist geschehen?«
Erramun rieb sich über die Nase. »Es ging um Politik«, sagte er. »Wie so oft, wenn Menschen sich streiten. Gondiar ist ein treuer Gefolgsmann unseres Königs. Farran dagegen ...« Er dachte nach, suchte nach den richtigen Worten.
»Mein Vater hielt nichts von Auberon und seiner Herrschaft«, sprach Ivaylo aus, was Erramun nicht laut sagen wollte. »Er fand es falsch und gefährlich, jede Zauberei zu verbieten. Er wollte sich nicht vorschreiben lassen, wie er seine Fähigkeiten zu benutzen hat. Mein Vater ist ein starker Magier, noch stärker als Munir«, schloss er stolz.
Erramun nickte bedächtig. »So muss es gewesen sein.« Seine Brust hob sich in einem langen Seufzer. »Ich verstehe deinen Vater ‒ auch wenn ich nicht weiß, ob ich sein Verhalten gutheißen kann. Wir alle sind Untertanen des Königs. Was er sagt, ist Gesetz.«
Ivaylo lachte spöttisch. »Auch, wenn es grundfalsch ist, was er sagt?«
Erramun neigte zweifelnd den Kopf. »Ist es an uns, das zu entscheiden?« Sein Blick war lauernd, er schien auf etwas zu warten.
»Was erwartest du von mir?«, fragte Ivaylo mühsam beherrscht. »Ich hege den Verdacht, dass Auberon etwas mit dem Verschwinden meiner Eltern zu tun hat. Und wenn das wirklich der Fall ist, dann ...« Er vollendete seinen Satz nicht, weil ein Ansturm von Bildern und Gefühlen ihn verstummen ließ. Farran und Audra, von Jägern getötet, irgendwo verscharrt. Seine Eltern, die in einem lichtlosen Kerker tief unter der Erde verhungerten. Audra, die mit ihren letzten Atemzügen nach ihm rief. Farran, der mit einem Fluch gegen seinen Peiniger auf den Lippen starb.
Ivaylo ballte die Fäuste.
»Du weißt nicht, was die Wahrheit ist«, gab Erramun zu bedenken. »Möglicherweise sind deine Eltern freiwillig ins Exil gegangen.«
»Ohne mich?«, erwiderte Ivaylo bitter.
Erramun nickte ernst. »Ohne dich. Es ist hart, getrennt von allen anderen Elfen zu leben. Vielleicht wollten sie dir das nicht antun. Du hast hier eine Familie, bei der du es gut hast.«
Ivaylo sprang auf und lief durch den Raum. »Es ist nicht in Ordnung!«, rief er. »Es geht mir nicht gut hier. Das ist nicht meine Familie!«
»Die kleine Alana hat dich aber sehr gern«, gab Erramun zu bedenken.
Ivaylo schwieg eine Weile. Er setzte sich wieder hin und seufzte. »Ja, schon«, gab er widerwillig zu. »Und trotzdem ...«
»Und trotzdem«, stimmte Erramun zu Ivaylos Erstaunen zu. »Du bist nicht aus eigenem Willen hier. Das ist es.« Er dachte nach. »Wärst du lieber auf dem Königsstein geblieben? Bei Munir?«
Ivaylo wollte verneinen, aber dann hielt er inne, um über die Frage nachzudenken. Es hatte ihn getroffen, dass Munir ihn hier abgeliefert hatte wie ein ungeliebtes Möbelstück. »Ich hätte nichts dagegen gehabt«, entgegnete er
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