Sturm: Roman (German Edition)
ist mir immer noch nicht in Fleisch und Blut übergegangen«, gestand Jan.
»Es würde mich wundern, wenn es anders wäre.« Kinah befeuchtete ihre Lippen mit der Zunge. »Euch Europäern ist schon lange das Gespür dafür abhandengekommen, welche Naturweisheiten und alten Regeln für alle Menschen gültig sind. Ihr sucht euch Weisheiten aus der ganzen Welt zusammen, ohne zu begreifen, was hinter ihnen steckt, und glaubt, mit Hilfe von ein paar chinesischen oder indischen Meditationsübungen den Sinn der Dinge erfassen zu können. Doch das ist Unfug. Die Wahrheit ist viel offensichtlicher. Es reicht ein Blick auf das Verhalten der Menschen, auf ihre Fähigkeit, mit der Natur in Einklang zu leben oder nicht. Und es reicht ein wacher Blick in den Himmel, um zu erkennen, ob die Götter euch zürnen oder euch wohlwollend Wind, Regen und Sonne schicken, auf dass alles in seiner Natürlichkeit erblühe.«
»Das ist nicht gerade wissenschaftlich«, wandte Jan ein.
»Was ist Wissenschaft?«, hakte Kinah nach. »Nichts anderes als die Beobachtung der Natur, aus der dann allgemeine Regeln abgeleitet werden. Und genau das, weißer Mann, haben meine Ahnen schon vor hunderttausenden von Jahren betrieben, zu einer Zeit, in der es noch mehrere Menschenrassen gab, von denen letztlich nur eine – die unsere – überlebte. Und warum wohl?«
»Weil sie sich am besten den Gegebenheiten anpassen konnte«, antwortete Jan prompt.
»Genau. Und weil diese Rasse klug genug war, die Götter nie so sehr zu erzürnen, dass sie ein letztes Strafgericht gegen die Menschheit führen mussten.«
Jan schwieg. Kinah sah ihm an, dass ihm der Gedanke, es könnten Götter sein, von denen die Menschen bestraft wurden, überhaupt nicht behagte. Er konnte wohl mehr mit der Vorstellung anfangen, dass blindwütige Militärs eine Waffe einsetzten, die die Zivilisation mit einer Sturmkatastrophe bedrohte.
Doch worin bestand der Unterschied? Was, wenn sich die Götter ebendieser Militärs bedienten, um der so genannten Zivilisation einen empfindlichen Dämpfer zu verpassen?
Kinah sprach den Gedanken nicht aus, aber sie erkannte, dass Jan durchaus verstand, was in ihr vorging. Er war allerdings klug genug, das Thema nicht weiterzuführen – zu unterschiedlich waren hier ihre Vorstellungen. Stattdessen sagte er: »Was treibt dich persönlich dazu, den Kampf gegen das drohende Strafgericht deiner Götter aufzunehmen? Warum mischt sich eine Ehefrau und Mutter in eine derart gewaltige Auseinandersetzung ein?«
Kinah biss sich auf die Unterlippe. Sie hätte Jan von dem Brief in ihrer Jackentasche erzählen können, von der Verpflichtung ihrer Ahnen. Aber sie tat es nicht – und zwar keineswegs deshalb, weil sie fürchtete, er könnte es nicht verstehen. Sondern, weil das ihr ganz privater Bereich war, etwas, von dem sie noch keinem Menschen erzählt hatte, noch nicht einmal Dirk.
»Es sind nicht meine Götter, Jan«, sagte sie stattdessen. »Es sind unser aller Götter. Du kannst sie als Naturgewalten betrachten, wenn dir das lieber ist, und auch so von ihnen sprechen. Das ändert nichts an ihrer archaischen Kraft und daran, dass sie denjenigen zerstören, der ihre Gesetze immer und immer wieder missachtet.«
»Ich kann deine Götter als Sinnbild durchaus akzeptieren«, sagte Jan. »Aber ich möchte gern verstehen, was dich dazu drängt, dein Wissen in meine Forschung einzubringen.«
Kinah zögerte. Sie ahnte, dass es ihr diesmal nicht gelingen würde, Jan mit ein paar Halbwahrheiten abzuspeisen. Wenn sie ihrer Verpflichtung wirklich nachkommen wollte, musste sie sich ihm wohl oder übel ein Stück weit anvertrauen. Schließlich hatte er von all den Männern und Frauen, mit denen sie auf ihrer Suche nach Verbündeten gesprochen hatte, von Anfang an am offensten auf ihre Sicht der Dinge reagiert; und dieser Eindruck hatte sich in den letzten Minuten noch verstärkt.
Jan runzelte die Stirn. »Also, was ist?« Als Kinah weiterhin schwieg, sagte er: »Bitte verstehe das jetzt nicht falsch, aber im übertragenen Sinn habe ich gerade die Hosen vor dir heruntergelassen. Was glaubst du, wer von dem Keller weiß, in dem du hier stehst?« Kinah zuckte mit den Achseln. »Du und ich, sonst niemand. Und ich gehe davon aus, dass du mit niemandem darüber redest, auch nicht mit deinem Mann. Das kann ich doch, oder?« Kinah nickte unwillkürlich. »Du kannst ebenfalls sicher sein, dass alles, was du mir erzählst, bei mir gut aufgehoben ist. Ich werde es für mich
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