Sturm: Roman (German Edition)
packen und zu verschwinden«, stellte er schließlich fest.
»Nein, natürlich nicht!«, protestierte Kinah. »Ich hatte Jans Warnung schon längst wieder vergessen, schließlich ist eine Ewigkeit lang nichts passiert – bis zu der Sturmnacht und meiner Vision in der Garage, als ich dich mit Akuyis Kopf in der Hand auf mich zuwanken sah. Und dann kam am nächsten Morgen auch noch Jans SMS. Was hätte ich da tun sollen?«
»Mit mir reden«, schlug Dirk vor. Als Kinah nicht antwortete, fügte er hinzu: »Aber das ging natürlich nicht. Schließlich hättest du mir sehr viel erklären müssen. Zum Beispiel, warum du mich jahrelang belogen hast und mir nichts von Jan und dem Erbe deines Vaters erzählt hast.«
Kinah runzelte die Stirn. »Vielleicht wäre es besser gewesen, ich hätte dir auch jetzt nichts erzählt. Du begreifst ja sowieso nichts!«
»Ich begreife eine ganze Menge«, entgegnete Dirk wütend. »Aber wir sollten dieses Thema nicht hier und jetzt ausdiskutieren.«
»Da kann ich dir nur recht geben«, mischte sich Rastalocke ein. »Wir sollten unsere Zeit nicht mit blödem Gequatsche verschwenden.«
Dirk starrte ihn an. Der Bob-Marley-Verschnitt hatte seinen jugendlichen Überschwang eindeutig verloren, und auch die Arroganz war aus seinem Blick verschwunden. Er sah nicht nur aus, als hätte man ihn in den letzten Stunden ebenso heftig durch die Mangel gedreht wie Dirk, sondern schien ein ganz anderer Mann zu sein als der, der so siegessicher in den Roamer gestiegen und vom Hof des Autovermieters gebraust war.
»Wir sollten unsere Zeit überhaupt nicht verschwenden, auch nicht, um hier auf Birdie zu warten«, sagte Lubaya. »Lasst uns endlich an der Oberfläche nachsehen, was der Sturm angerichtet hat.«
Plötzlich legte John den Kopf schief und lauschte. Dirk brauchte nicht erst zu fragen, was seine Aufmerksamkeit erregt hatte.
Ein fernes Grollen und Rauschen ertönte, das ganz anders klang als die Geräusche der zusammenbrechenden Grotte, in der sie Jan verloren hatten. Doch diese Laute wirkten nicht weniger bedrohlich und kamen zudem sehr rasch näher.
»Oh, oh«, sagte Lubaya. »Das klingt aber gar nicht gut!«
»Was ist das?«, fragte Kinah.
»Wasser«, antworteten Dirk und John wie aus einem Mund.
Und damit sprangen beide auf.
»Wasser?«, fragte Kinah verwirrt. »Aber woher?«
»Da lang!«, rief Rastalocke und deutete in den Gang, in dem er den Araber abgelegt hatte. »Dort geht es ein Stück hoch! Da kommen wir raus!«
Dirk lief los. Er war im Begriff, Kinah zu packen und mit sich zu ziehen, doch das stellte sich als vollkommen überflüssig heraus. Mit der Schnelligkeit einer Raubkatze fuhr sie herum und begann im selben Moment zu laufen, dicht gefolgt von Lubaya, die zuvor ihre Tasche vom Boden aufgeklaubt hatte.
Sie hatten den Gang noch nicht erreicht, als das Wasser auch schon gurgelnd, zischend und übersprudelnd heranschoss. Im Nu umspülte es ihre Knöchel, dann löschte es die Kerze, die Lubaya mit etwas heißem Wachs auf dem Boden befestigt hatte.
Schlagartig wurde es dunkel. Dirk streckte die Hände vor, um nicht gegen irgendein Hindernis zu rennen. Eigentlich konnte er den Gang kaum verfehlen, in dem Kinah und Lubaya bereits verschwunden waren. Und das durfte er auch nicht. Das Wasser rauschte nun mit unbändiger Kraft heran, und obwohl es noch nicht einmal bis zu der Bisswunde an seiner Wade reichte, drohte es ihn durch seine pure Wucht von den Füßen zu reißen. Gerade, als ihn das Gefühl beschlich, den Gang wider Erwarten doch verpasst zu haben, rempelte ihn jemand an.
Es war John.
»Hier entlang«, brüllte er und stieß ihn vorwärts.
Dirk hatte keine Ahnung, woher Rastalocke wusste, dass dies die richtige Richtung war, aber nichtsdestotrotz lief er so schnell durch das Wasser, wie er konnte. Jeder Schritt wurde zum Abenteuer, jedes Mal, wenn er den Fuß aufsetzte, hatte er den Eindruck, durch einen Fluss zu waten, der nur darauf lauerte, dass er sich vertrat, um ihn endgültig zum Straucheln zu bringen und unter Wasser zu ziehen.
»Lauf!«, brüllte John. »Wenn du stürzt, bist du verloren!«
Er versetzte Dirk erneut einen kräftigen Stoß – und das keinen Augenblick zu früh, denn ein kurzer, schmerzhafter Aufprall mit der Schulter zeigte ihm, dass er gerade drauf und dran gewesen war, sich den Kopf an der Mauer einzuschlagen, die den Gang zu beiden Seiten einfasste.
Das Rauschen hinter ihnen wurde immer lauter und bedrohlicher, Zeichen einer Urgewalt,
Weitere Kostenlose Bücher