Sturm: Roman (German Edition)

aus ihrer linken Gesichtshälfte etwas Abstoßendes gemacht, etwas, das ihn an die Vision von Kinah erinnerte, die er in der Grotte gehabt hatte.
    Dirk streckte die Hände nach Janette aus. Er ahnte, dass jede Hilfe zu spät kam, dass sie vielleicht nur noch Minuten, Stunden oder höchstens ein paar Tage zu leben hatte. Aber das änderte nichts daran, dass er sie von hier wegbringen musste, nach hinten in die Kabine, wo sie sich hinlegen konnte … und wo Biermann war. Eine unfassbare Vorstellung, ihm seine Freundin in diesem Zustand zurückzubringen. Aber Dirk musste es tun, er musste …
    Er war zu langsam, zu zögerlich. Janette knickte in den Knien ein. Ein dumpfer Laut entrang sich ihrer Kehle, dann ein fürchterliches Röcheln.
    Sie fiel nach links in Richtung der zerschossenen Frontscheibe mit der dünnen Mittelstrebe, die das Sichtfeld in zwei Hälften teilte. Bei dem Versuch, sich festzuhalten, griff sie in die spitzen, scharfkantigen Überreste des Fensterglases. Blut spritzte auf. Janette stieß einen hellen, durchdringenden Schrei aus und kippte nach vorne. Es sah beinahe so aus, als wolle sie sich aus dem Flugzeug stürzen. Aber sie war wohl einfach nicht mehr in der Lage, ihre Bewegungen zu koordinieren.
    Dirk erwischte ihr rechtes Handgelenk, doch es drohte ihm sofort wieder zu entgleiten. Er packte fester zu, ungeachtet des Schmerzes, der durch seine Hand und seinen Arm zuckte. Noch ein kleines Stück, dann hatte er sie …
    Aber da geschah etwas vollkommen Unglaubliches. Nach dem Verschwinden des Hubschraubers hatten sich die Wolkenwirbel rings um das Flugzeug immer weiter verdichtet, und nun glitt aus diesen Wirbeln ein dicker Strang auf Janette zu, begleitet von einem fauchenden Wind, der an allem zerrte, was noch nicht davongeflogen war. Es wurde schlagartig kalt, und das Kabinenlicht begann erneut zu flackern.
    Dirk umklammerte weiterhin Janettes Handgelenk. Unter normalen Umständen hätte er sie problemlos zu sich heranziehen können. Doch dies waren keine normalen Umstände. Eine fast stoffliche Schwärze hüllte Janette ein, und das Wimmern – Janettes Wimmern –, das aus dieser Schwärze drang, verband sich mit dem Pfeifen und Zischeln des Windes zu einem Furcht erregenden Geräusch. Dirks Arm zitterte vor Anstrengung, und auf einmal spürte er, dass Kinah ihn umfasste und mit ebenso viel Kraft an ihm zerrte, wie er an Janette. »Nein!«, schrie Dirk. »Ich lasse dich nicht los!«
    Dies fasste die unheimliche Kraft, die sich Janettes zu bemächtigen versuchte, anscheinend als Kampfansage auf, denn nun begann der Wind noch lauter zu fauchen, und eine mächtige Bö traf Dirk und riss ihn aus Kinahs Armen. Bevor er begriff, wie ihm geschah, entglitt ihm Janettes Handgelenk, und er wurde wie von einer riesigen Faust nach hinten in die Kabine gestoßen. Das Letzte, was er sah, war, wie Janette inmitten der geballten Schwärze nach vorne gerissen und aus dem Cockpit geschleudert wurde.

Kapitel 27
    Die zerklüfteten Höhenzüge des Atlasgebirges lagen hinter ihnen, aber noch hatten sie nicht die freie Ebene der Sahara erreicht, sondern flogen über hügelige Gebirgsausläufer und nutzten dabei jeden Sichtschutz, der sich ihnen bot. Es war eine ganz andere Welt, in der sie hier unterwegs waren, nicht so fruchtbar und grün sprießend wie auf der Nordseite, sondern geprägt von Hitze und Wind, der aus den Steinspalten jede Erdkrume zu blasen versuchte, in der mit zäher Beharrlichkeit Gräser und Buschwerk wurzelten. Der Bugscheinwerfer der Lisunov beleuchtete immer nur kleine Ausschnitte – runde, ausgewaschene Felsen, Formationen, die wie verwitterte, von der Zeit zernagte Wohnblöcke in die Höhe ragten, oder auch spärlich bewachsene Hänge.
    Dirk war klar, dass sie noch einen weiten Weg vor sich hatten, bevor sie darauf hoffen durften, Akuyi wieder in die Arme zu schließen. Und er wusste, dass sie diesen Weg nicht in der Lisunov würden zurücklegen können, deren Cockpit einem Schlachtfeld glich. Der Boden war mit Glas- und Metallsplittern übersät, die Wand hinter ihnen von Einschusslöchern unterschiedlichen Durchmessers zerfetzt, und von der ebenfalls von einigen Kugeln getroffenen Decke hingen ein paar Kabel, die wie herausgerissen aussahen, aber immerhin weder verschmort noch zerschossen waren.
    Doch das Problem waren weniger die Treffer, die das Flugzeug hatte einstecken müssen, als vielmehr die Verletzung, die sein Pilot davongetragen hatte. Die Salve, die Janette getötet hatte,