Sturm: Roman (German Edition)
mehr«, fuhr Jan hastig fort. »Der Sturm wird stärker. Wir müssen sofort abhauen, sonst kommen wir hier nicht mehr weg!«
Wie zur Bestätigung dieser Worte traf Dirk ein harter Schlag in den Rücken, eine Bö, die die letzten Regentropfen und Nebelschwaden vertrieb. Dirk taumelte und stützte sich mit den Händen gegen die Außenhülle der Lisunov, zog sie aber sofort wieder zurück. Das Metall war heiß wie eine Kochplatte, und der Qualm, der aus sämtlichen Rissen und Spalten im Flugzeugrumpf drang, stank, als würde er dem Vorhof der Hölle entweichen.
»Alle zum Hubschrauber!«, übertönte Venturas Stimme das anschwellende Fauchen des Windes. »Schnell!«
Jan ging in die Hocke und schnappte sich Kinahs Beine. Dirk schob seine Hände unter Kinahs Achselhöhlen.
»Auf drei«, sagte Jan. »Drei!«
Es war kein Scherz. Sie hatten tatsächlich keine Zeit mehr. Die Lisunov bebte und ächzte unter der Gewalt, die sie von innen und außen bedrängte, unter dem Ansturm der Böen, die sich den Metallkörper zum Ziel ihrer Zerstörungskraft erkoren zu haben schienen.
Dirk richtete sich mit einer kraftvollen Bewegung auf. Er würde sich durch nichts davon abhalten lassen, Kinah in Sicherheit zu bringen, weder durch einen Sturm noch durch eine Kugel.
»Lasst los, ihr Blödmänner!«, stammelte Kinah. »Ich kann alleine laufen.«
Ihre Sprache war ebenso unsicher und kraftlos wie ihr Versuch, sich aus Dirks Griff zu lösen.
Er und Jan trugen sie langsam von dem Flugzeugwrack weg, hinüber zum Hubschrauber.
Da sahen sie das alte Maschinengewehr der Lisunov und den Mann mit den Rastalocken, der verkrümmt dahinter lag. John und Biermann hatten die schwere Waffe nicht wie angekündigt direkt neben dem Flugzeugbug aufgebaut, sondern ein Stück entfernt. Viel Glück hatten sie dabei nicht gehabt.
Das MG war von einer gegnerischen Waffe getroffen und zur Seite geschleudert worden. Der Kolben war blutverschmiert. Diese Waffe würde höchstwahrscheinlich nie wieder einen Schuss abgeben. Dirk hätte grimmige Genugtuung empfinden müssen, aber das war keineswegs der Fall.
Er hatte John noch viel weniger leiden können als Biermann, betrachtete nun jedoch mit Erschütterung die Blutspur, die sich von dem Maschinengewehr bis zu Johns Händen zog und unter seinem Körper verschwand. Johns vollkommen unnatürliche Haltung ließ nur einen Schluss zu. Noch ein Mensch, der durch meine Schuld ums Leben gekommen ist, dachte er. Alle drei – Biermann, John, Janette –, die ihn begleitet hatten, um ihm bei der Suche nach seiner Tochter zu helfen, hatten das mit ihrem Leben bezahlt.
»Warum habt ihr das getan?« Olowski verlangsamte seinen Schritt und starrte den Toten an, als könnte er nicht glauben, was er sah. »Ihr hättet doch nur zu uns kommen müssen! Wir wollten euch doch helfen!«
Dirk registrierte diese Worte erst mit einiger Verspätung, weil er zu sehr von dem abgelenkt war, was er sah. John lag mit dem Gesicht im Matsch, als hätte man ihn achtlos weggeworfen. Er glich einer von Kinahs Skulpturen – grotesk verbogen und verzerrt, wenn auch aus Fleisch und Blut statt aus Draht, Kunststoff, Holz oder Metall. Mit seinem linken Arm schien etwas ganz und gar nicht zu stimmen, der rechte war unter seinem Körper begraben. Man hatte ihn nicht bloß niedergeschossen, sondern ihm danach auch noch ein paar kräftige Fußtritte verpasst. Dirk konnte sich vorstellen, wer das gewesen war: der Osteuropäer mit der Boxernase.
»Ihr wolltet uns helfen?«, fragte er und blieb stehen, um Kinah anders zu fassen, ehe eine Sturmbö sie ihm aus den Händen riss.
»Was soll das?« Kinah blickte zu ihm hoch. »Willst du mich fallen lassen wie eine heiße Kartoffel?«
Es bereitete Kinah sichtlich Mühe, sich diesen kläglichen Scherz abzuringen, und Dirk fragte sich unwillkürlich, ob ihr wirklich nichts geschehen war. Sie klang so schwach. Er würde Lubaya bitten, sie sich noch einmal genau anzusehen.
»Ja, helfen. Stell dir vor.« Olowski hatte ebenfalls innegehalten und schien auch nicht weitergehen zu wollen, obwohl Dirk ihm auffordernd zunickte. »Oder was glaubst du, warum wir euch gefolgt sind?«
Dirk keuchte, überrascht und entrüstet zugleich. »Weil ihr uns abschießen wolltet«, entgegnete er. »Eure Kollegen hätten uns doch schon mitten im Gebirge beinahe vom Himmel geputzt.«
»Das waren nicht Venturas Leute.« Jans Pferdeschwanz flatterte hin und her wie ein Wimpel auf einem schnellen Motorboot. Er verlagerte sein
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