Sturm: Roman (German Edition)
hatte, nicht begreifend, dass er von Splittern hätte getroffen und ernsthaft verletzt werden können, war plötzlich Ventura vor ihm aufgetaucht. Er bewegte sich so schnell, dass Dirk ihm kaum zu folgen vermochte. Wie hingezaubert lag eine Waffe in seiner Hand, eine kleine Maschinenpistole, wahrscheinlich eine Uzi. Und während die Luft noch voller Rauch, Trümmer und Dröhnen gewesen war, hatte er einen gezielten Feuerstoß abgegeben. Die Kugeln hatten Rastalocke regelrecht durchsiebt und nach vorne geschleudert. Er musste tot gewesen sein, noch bevor er auf dem Boden aufgeschlagen war.
»Ich habe ja gesagt, auf mein Mädchen ist Verlass«, murmelte Jurij mitten Dirks Grübelei hinein.
Dirk atmete tief durch und versuchte, die quälenden Erinnerungen zu verdrängen. All das hätte einfach nicht passieren dürfen. Blitzen gleich durchzuckten ihn Gefühle der Schuld und Verzweiflung angesichts dessen, was geschehen war. Rastalocke, der seinen unversehrten rechten Arm nach oben gestreckt hatte, kaum dass ihn der Feuerstoß aus Venturas Waffe getroffen hatte. Die Signalpistole, die in hohem Bogen davongeflogen war …
»All die Jahre hat sie mich treu überall dorthin getragen, wo ich hinwollte«, plapperte Jurij weiter. »Nie hat sie mich im Stich gelassen. Sogar mit nur einem Motor ist sie noch hunderte von Kilometern geflogen, wenn es sein musste. Wie damals, als ein Weißrückengeier in den linken Propeller geriet und ihn total verbog. Den Geier hat es natürlich in handliche Stücke zerfetzt.«
Dirk warf dem alten Mann einen erschöpften Blick zu. Jurijs Geplapper ging ihm gehörig auf die Nerven. Aber er musste zugeben, dass sich der Russe ansonsten sehr zusammenriss. Bislang war kein Vorwurf über seine Lippen gekommen, kein Wort der Anklage, weil es seine Lisunov bei diesen Flug erwischt hatte oder weil er in eine Sache auf Leben und Tod hineingezogen worden war. Jurij schien über die beneidenswerte Eigenschaft zu verfügen, das Unvermeidliche akzeptieren zu können – was Dirk von sich selbst nicht unbedingt behaupten konnte.
Wahrscheinlich hatte sich der alte Mann in seinem langen Leben schon oft genug mit derartigen Situationen arrangieren müssen und das jeweils Beste daraus gemacht. Diesmal war es nicht anders. Jurij hatte sich aus den Trümmern ein Metallteil herausgesucht, das an einer Stelle eine Kunststoffummantelung hatte und auf das er sich stützen konnte wie auf einen Stock. Der Verband an seinem Oberarm wirkte fast jungfräulich, sah man einmal von dem leicht rötlichen Schimmer in der Mitte ab, der darauf hindeutete, dass die Blutung noch nicht zum Stillstand gekommen war. Tatsächlich war Jurij von ihnen allen noch am besten dran. Seine Lederjacke, sein kariertes Hemd und seine abgewetzte Cordhose hatten nicht einmal einen Schmutzspritzer abbekommen, ganz im Gegensatz zu den zerrissenen, verdreckten Kleidungsstücken, die Kinah und Dirk am Leibe trugen. Auch sein Gesicht war so gut wie unversehrt.
»Nach den Gesetzen der Thermodynamik, Physik oder was zum Teufel auch dafür zuständig ist, hätte meine Lisunov längst den Geist aufgeben müssen«, fuhr der alte Mann fort. »Aber sie weigert sich. Dieser neumodische Hubschrauberschrott ist schon bei der ersten Berührung mit einer Explosivladung in die Luft geflogen, während mein Mädchen immer noch tapfer aushält.«
In seinem Tonfall schwang nicht in erster Linie Stolz, sondern Wehmut. Trauer. Das Wissen, dass die Zeit, die er mit seinem Mädchen verbracht hatte, vorbei war und nie wiederkehren würde. Dass, selbst wenn sie dieses Abenteuer überlebten, für ihn vielleicht alles vorbei war. Die Fliegerei, die Freiheit, sich wie ein junger Mann zu fühlen, obwohl er in seinem Alter eigentlich schon längst seine Lizenz hätte abgeben müssen. In Europa hätte er eine so große Maschine wie die Lisunov sicherlich nicht mehr alleine durch den Luftraum steuern dürfen.
Dirk bemerkte, dass Kinah, die immer noch neben Jan ging, in den Knien einknickte und sich erst nach einigen taumelnden Schritten wieder fing. Jan streckte die Hand aus, um sie zu stützen, doch Kinah trat schnell zur Seite und schüttelte den Kopf. Natürlich. Sie glaubte ja immer, alles alleine schaffen zu müssen.
Dirk ließ sich ein Stück zurückfallen, bis neben ihm Ventura auftauchte. Er bildete das Schlusslicht der kleinen Kolonne, während Boxernase sie anführte. Das war natürlich kein Zufall – auf diese Weise hielten die beiden den traurigen Trupp in Schach
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