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Sturm: Roman (German Edition)

Sturm: Roman (German Edition)

Titel: Sturm: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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schräg versetzte Route gewählt hatte.
    Während er sich mit zusammengebissenen Zähnen weiter nach oben kämpfte, verspürte er vorsichtige Erleichterung. Immerhin war bislang niemand aufgetaucht und hatte auf ihn geschossen. Da es nicht mehr weit bis zum Gipfel dieser merkwürdigen Halde war, hoffte er, auch noch diese Distanz ohne größere Blessuren als Schrammen und blutige Kratzer an seinen Fingern und Handflächen überwinden zu können. Und dann würde er endlich einen Blick auf das Tal werfen können, zu dem laut Kinah auch ihr Vater und Noah unterwegs waren.
    Vielleicht waren sie ja schon dort.
    Der Gedanke lenkte ihn ab, sodass er nicht aufpasste und in etwas griff, das sich glatt und rutschig anfühlte, aber kein weißer Stein war, wie er zunächst glaubte. Dirks Hand zuckte instinktiv zurück.
    Es war ein Knochen. Lang und gebogen wie das Schienbein eines Riesen. Trotzdem musste das größte Stück noch unter Geröll begraben liegen. In der Nähe erkannte Dirk weitere Knochenfragmente, die aus dem Untergrund ragten – in derart gleichmäßigem Abstand, dass sie wie die Spitzen eines gigantischen Brustkorbs aussahen.
    Die verrücktesten Gedanken und Bilder schossen Dirk durch den Kopf. Dunkle Schatten, die Schreie wilder Tiere, dumpfe Trommeln – er befand sich in einem archaischen Land, in dem Geister, Ahnen und Riesen zum Leben der Menschen gehörten. Kinah hatte ihm immer wieder von unglaublichen Dingen erzählt, darunter auch von gewaltigen Wesen, die einst in dem Teil der Welt lebten, in dem später die ersten Menschen den aufrechten Gang und irgendwann die Kunst des Sprechens entwickelten. Die Riesen lagen ständig im Wettstreit mit Göttern und Dämonen und wurden ihnen allein durch ihre Kraft immer wieder gefährlich. Kinah hatte behauptet, dass jene alten Geschichten nicht reine Fantasie waren, sondern wie viele andere Sagen und Mythen einen wahren Kern hatten.
    »Was ist?«, rief Ventura. »Schlafen Sie nicht ein da oben!«
    Dirk warf einen Blick zurück. Der Abstand zu den anderen hatte sich deutlich verringert. Karel war ihm relativ dicht auf den Fersen, Ventura bildete wie üblich die Nachhut, und dazwischen krabbelten Kinah, Jan, Lubaya und Jurij wie Schildkröten den Hang hinauf, genauso langsam und auf allen vieren wie er selbst.
    »Hier ist etwas«, rief Dirk zurück. »Knochen. Große Knochen.« Ventura hob den Kopf. Ein Lichtreflex huschte über seine Sonnenbrille. »Was für Knochen? Menschenknochen?«
    Dirk schüttelte den Kopf. »Nein. Sehr viel größer.«
    »Dann werden sie von Elefanten oder Giraffen stammen«, gab Ventura ungeduldig zurück. »Und jetzt weiter!«
    Dirk zuckte resigniert mit den Schultern und mühte sich weiter den steilen Hang empor. Vorhin hatte er die ganze Zeit nach oben gestarrt, bereit, jederzeit zurückzuhasten, falls das Metall eines Gewehrlaufs aufblitzte oder ein Gesicht zu sehen war. Nun musterte er stattdessen die Knochen, an denen er vorüberkam Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie von einer noch existierenden afrikanischen Tierart stammten. Sie wirkten nicht nur fremd, sondern verteilten sich auch über ein dermaßen weites Gebiet, dass sie jegliche normale Größenordnung sprengten.
    Je höher Dirk kraxelte, desto mehr musste er sich anstrengen, um nicht wieder zurückzuschlittern. Seine Hände gruben sich in das Geröll und nutzten jeden Halt, der sich ihnen bot, trotzdem ging es mehr schlecht als recht. Schließlich umfasste er vorsichtig einen der halb verschütteten Knochen. Er war fest genug verankert, dass sich Dirk an ihm hochziehen konnte. Und dabei fiel ihm auf, was mit diesem Knochen nicht stimmte: Er fühlte sich nicht so an, wie sich ein Knochen anfühlen sollte. Die Riesenrippe war glatt und kühl wie der Marmor der Fensterbank in seinem Arbeitszimmer.
    Dirk wusste sofort, was das bedeutete, schließlich hatte er nicht umsonst mit Kinah ein halbes Dutzend Museen für Frühgeschichte und unzählige Ausgrabungsstätten besucht und dabei auch das eine oder andere Mal verbotenerweise mit den Fingern über ein Exponat gestrichen. Der Knochen war eindeutig versteinert. Dirk hätte ihn um ein Haar losgelassen und wäre abgerutscht. Ihm wurde schlagartig klar, dass es sich tatsächlich nicht um das Gerippe eines zu groß geratenen Elefanten oder einer riesigen Giraffe handelte, und selbst ein Mammut schied angesichts der Form des Skeletts wohl aus. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie lange Knochen brauchten, bis sie

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