Sturm: Roman (German Edition)
kein Walskelett. Und schon gar keine Spur von Menschen. Wo ist deine Mutter? Oder deine Schwester? Spürst du ihre Anwesenheit, oder laufen wir gerade in die Irre?«
»Was sagen dir denn die Ibeji?«, fragte Noah.
Dirk blieb stehen und legte den Kopf schief. »Was sollen sie mir denn sagen?«
»Nimm sie ruhig mal raus und lass sie die Atmosphäre hier spüren. Wenn wir Glück haben, werden sie uns weiterführen.«
Dirk zögerte. Der Vorschlag kam ihm mehr als nur ein bisschen abgehoben vor. Bevor er eine Entscheidung treffen konnte, tippte ihm Noah gegen den Arm. »Ich glaube, ich weiß, was sie dir sagen würden.«
Mit diesen Worten marschierte er wieder los, schneller diesmal. Dirk beeilte sich, ihm zu folgen. Kurz vor einem Felsgrat zog er den Kopf ein … und hörte in einiger Entfernung Stimmen.
»Da sind sie«, flüsterte Noah.
»Wer?« Dirk war derart aufgeregt, dass er Noahs leise Antwort nicht verstand. »Wer?«, fragte er noch einmal.
Mit einer hastigen Bewegung legte ihm Noah den Zeigefinger auf die Lippen. Keinen Augenblick zu früh. Das Gemurmel verstummte. Stattdessen waren Schritte zu hören, die direkt auf sie zuhielten.
Noah warf seinem Vater einen fragenden Blick zu, und Dirk deutete nach hinten.
Besser, sie zogen sich erst einmal zurück, statt sich mit irgendjemandem anzulegen.
Zu seiner Erleichterung schien Noah das genauso zu sehen. Vorsichtig drehten sie sich um – und erstarrten.
Ein großer, bulliger Mann stand vor ihnen und hielt ihnen die Mündung einer Maschinenpistole unter die Nase. Dirk hatte keine Ahnung, wie es dem Kerl gelungen war, sich völlig unbemerkt anzuschleichen, wusste aber immerhin, wer der Mann war.
»Karel!«, sagte er verärgert. »Mach keinen Blödsinn! Don't make any nonsense!«
Der Einzige, der hier Blödsinn verzapfte, war er selbst, indem er englisch radebrechte, als müsste er nicht ständig mit Amerikanern in ihrer Landessprache verhandeln.
Boxernase ließ die Maschinenpistole so weit sinken, dass sie auf Noahs Unterleib zeigte, und warf Dirk einen misstrauischen Blick zu.
»Ah, you. Who is this guy here?«
Sein Englisch war eindeutig noch schlechter als Dirks, was vor allem an seinem Akzent lag, der klang, als würde Arnold Schwarzenegger einen ehemaligen russischen Boxchampion spielen, der zu viele Kopftreffer hatte einstecken müssen.
»He is my son«, erwiderte Dirk und fragte sich im selben Moment, ob es klug gewesen war, gleich mit der Wahrheit rauszurücken.
»Your son. Hmm« Karel grinste schief. »Not a common son of you and the black beauty, or?«
Offensichtlich war er zu der Schlussfolgerung gekommen, dass nicht Kinah Noahs Mutter war, sondern eine hellhäutige Frau. Sollte er doch glauben, was er wollte.
»Where are the others?«, fragte Dirk.
Boxernase wies mit dem Kinn an ihnen vorbei in das Halbdunkel. Dirks Magen krampfte sich zusammen. Er hätte Karel fragen können, wer genau zu den anderen gehörte, das hätte jedoch nur Zeit gekostet. Also drückte er den Lauf der Maschinenpistole nach unten – was Karel mit einem Knurren quittierte, das jedem Kampfhund Ehre gemacht hätte –, drehte sich um und ging los, dicht gefolgt von Noah.
Sie erreichten eine Höhle, die nicht so dunkel war, wie Dirk erwartet hatte. Irgendjemand hatte eine Taschenlampe so zwischen zwei Steinen eingeklemmt, dass ihr Strahl an die Decke fiel und das Licht von dort vielfach gebrochen in die Höhle zurückgeworfen wurde. Noah trat noch einen Schritt vor, blieb dann stehen und sagte: »Oh, Scheiße.«
Diesen Ausdruck hatte er sicherlich nicht bei Shimeru gelernt, aber er passte. Die gute Nachricht war, dass alle anwesend waren, mit denen Dirk das qualmende Wrack der Lisunov verlassen hatte. Die schlechte, dass Akuyi nicht dabei war, und die allerschlechteste, dass Jan Olowski auf dem Boden lag, den Kopf auf Kinahs Schoß gebettet, und so bleich war wie ein Gespenst.
Er hatte einen Bauchschuss abbekommen. Lubaya hockte neben ihm und versuchte, die Blutung mit einer Kompresse zu stoppen. Entweder hatte sie gerade erst angefangen, oder sie war nicht sehr erfolgreich. Der rote See unter Jan war erschreckend groß und schien sich immer weiter auszubreiten.
Kinah blickte flüchtig auf. Dirk sah, dass sie geweint hatte. Offenbar bemühte sie sich, tapfer zu sein, was dazu führte, dass ihre schönen Gesichtszüge wie in Stein gemeißelt wirkten – bis auf die feuchte Spur, die sich von ihrem rechten Auge die Wange hinunter zum Kinn erstreckte.
Als sie
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