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Sturm: Roman (German Edition)

Sturm: Roman (German Edition)

Titel: Sturm: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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seinem Handgelenk hatte wieder angefangen zu jucken, und zwar derart heftig, dass er sich am liebsten die Haut weggekratzt hätte.
    »Du hast dir wahrscheinlich nur irgendwo den Kopf angestoßen und siehst jetzt Sternchen.« Biermann war mittlerweile zu einem Baum geklettert, der kaum drei Meter entfernt über ihnen in den Himmel ragte, und begann, das eine Ende des Seils darum zu schlingen. »Woher soll denn Licht in die Grotte dringen? Vielleicht von draußen?«
    »Nee. Aber vielleicht vom Keller des Bungalows«, antwortete Rastalocke. »Aber das werde ich gleich haben. Wo ist denn mein Feuerzeug …« Ein metallisches Geräusch erklang, dann flackerte in dem Loch tatsächlich etwas auf. » Huch … Das ist ja wohl die größte Ekelratte, die ich je gesehen habe!«
    Dirk spürte eine Woge heftiger Übelkeit in sich aufsteigen. Ekelratte? Er wich ein paar Schritte zurück. Es gab nichts Schlimmeres als Ratten! Sie waren alle eklig, egal, ob klein wie ein Maus oder groß wie ein Dackel und egal, ob es eine graubraune Wanderratte mit nacktem Schwanz oder eine schwarze Hausratte mit tückischen großen Augen war.
    »Na warte, du Biest!«, keuchte Rastalocke. »Ich mache dir ein bisschen Feuer unterm Arsch … Na, wie gefällt dir das, du kleines Miststück?«
    »Was treibst du da eigentlich?« Biermann prüfte das Seil und hielt sich an ihm fest, während er zurück zu Dirk kletterte. »Gibt's da unten ein Rattenproblem?«
    »Nee, gleich nicht mehr …« Johns Stimme klang eindeutig angespannt und eine Spur zu schrill, um seinen Worten Glaubhaftigkeit zu verleihen. »Das ist, als würde man von seinem eigenen Klo verschluckt und in der Kanalisation unliebsame Überraschungen erleben … Oh mein Gott. Nun mach schon! Schick endlich Gallwynd zu mir runter!«
    Das Abseilen zu dem Gang, den John angeblich entdeckt hatte, war die Hölle. Nun rächte es sich, dass Dirk seit drei Jahren nicht nur jedwede sportliche oder sonstwie anstrengende Betätigung mied, sondern seinem Körper auch viel zu oft durchwachte Nächte und Selbstmitleids- und Alkoholexzesse zumutete. Seine Armmuskeln verstanden zwar durchaus den Befehl, ihre letzten Reserven zu aktivieren, aber sie schafften es kaum, ihn auszuführen, genauso wenig wie seine Lungen ihn inmitten der beißenden Gestankwolke, in die er eintauchte, mit dem nötigen Sauerstoff versorgen konnten. Zu den Schmerzen in seinen Armen und der Angst, er könne das Seil nicht mehr halten und würde abstürzen, kam die furchtbare Ungewissheit, was ihn dort unten erwarten mochte – und der Gedanke an die Ratten. Seine Nackenhaare stellten sich auf und sein Atem ging schnell und hektisch. Ratten! Er war gewiss kein Freund von Schlangen und anderem kriechenden Gewürm, und das Gefühl, von den Beinen einer Spinne gekitzelt zu werden, jagte ihm noch bei der Erinnerung einen kalten Schauer über den Rücken. Aber Ratten?
    Er musste fünf Jahre alt gewesen sein, als er zum ersten Mal auf eine Ratte gestoßen war – an dem kleinen Bach hinter dem Haus, das sie damals bewohnt hatten. Er hatte auf dem Bauch gelegen und das Papierschiffchen zu Wasser gelassen, das er vorher voller Begeisterung gebastelt hatte. Der kleine Spielzeugsoldat aus Plastik, den er in das Schiffchen gesetzt hatte, war sein Mann für schwierige und gefährliche Erkundungen. Er hielt einen Phaser in der Hand, ein klobiges Ding, das ein bisschen wie eine Maschinenpistole aus einem der Filme wirkte, die Dirk nicht sehen durfte, das aber viel, viel gefährlicher war, jedenfalls für die Feinde, die seinem obersten Befehlshaber – also Dirk – an den Kragen wollten.
    Das Schiffchen tanzte auf den Wellen, und als es von einer Woge getroffen wurde und Wasser über die Bordwand schwappte, fürchtete er einen Augenblick lang, es würde untergehen. Doch der Kapitän brüllte die richtigen Befehle, und die Mannschaft tat das Richtige (was auch immer das war, Details dieser Art waren Dirk noch nie wichtig gewesen). Alles, was zählte, war, dass sein bester Mann, sein Erkundungssoldat, stramm und aufrecht stehen blieb, bereit, mit seinem Phaser alles auszulöschen, was einen Angriff wagen sollte.
    Dirk hatte bis zu jenem Tag noch nie eine Ratte gesehen, ja nicht einmal gewusst, dass es solche Tiere überhaupt gab. Sein kleines Herz begann wie verrückt zu hämmern, als er sah, was die Welle ausgelöst hatte und sich nun zu ihm und dem Schiffchen umdrehte und ihn mit derart tückischen Augen musterte, wie es nur die schlimmste Ausgeburt

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