Sturm: Roman (German Edition)
ihn an die Aufkleber erinnerte, die Akuyi vor Jahren in ihrem Kinderzimmer angebracht hatte und die auch dann noch grün leuchteten, wenn man das Licht ausschaltete …
Rastalocke war verschwunden.
Dirk packte Biermann am Arm. »Warum laufen wir hier alleine rum? Wo ist John?«
Biermann starrte ihn mit einem bleichen Fragezeichengesicht an, das wie eine Schwarz-Weiß-Karikatur wirkte. »Was ist los mit Ihnen? Haben Sie den Typ mit der Schrotflinte gesehen, oder was ist passiert?«
»Nichts ist passiert!« Dirk schrie es beinahe. »Ich will nur eine Antwort auf meine Frage!«
Biermann sah sich hastig um. »Beruhigen Sie sich, Gallwynd. Wir sind hier, weil wir eine Spur verfolgen, mehr nicht …«
»Und die Leiche im Keller?«
»Falls es überhaupt eine Leiche war und nicht bloß ein Sack verfaulter Kartoffeln, auf dem schmutzige Kleidung lag, ist das ein Fall für die marokkanische Polizei.«
»Das war kein Sack verfaulter Kartoffeln, das wissen Sie ganz genau!« Dirk holte tief Luft. Er durfte nicht durchdrehen. »Wir müssen uns beeilen. Es könnte sein … dass hier gleich etwas Schreckliches geschieht.«
»Wovon reden Sie?« Biermann schüttelte Dirks Hand mit einer ärgerlichen Bewegung ab. »Haben Sie doch irgendetwas beobachtet?«
»Etwas, das schlimmer ist als all das, was wir heute schon erlebt haben?« Dirk schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Trotzdem«, sagte Biermann. »Ich habe ein ungutes Gefühl. Vielleicht sollten wir die Aktion abbrechen und im Tageslicht wiederkommen.«
»Im Tageslicht? Sind Sie verrückt?« Dirk wollte erneut seinen Arm packen, aber diesmal wich Biermann geschickt aus. »Wir müssen Kinah finden, und dann fahren wir sofort nach Casablanca zurück und verlassen dieses Land mit der nächsten Maschine!«
Biermann griff nach seiner giftgrünen Krawatte, die im eisigen Wind flatterte. Doch er legte sie nicht ab, wie Dirk erwartet hatte, sondern holte eine Krawattennadel aus seiner Jackentasche und steckte sie fest. »Nichts anderes hatte ich vor. Aber Sie können die ganze Sache auch ruhig mir und John überlassen. Vielleicht wäre es das Beste, wenn Sie wieder zum Wagen gingen und mit Janette dort warteten …«
»Worauf soll ich denn warten?«, unterbrach ihn Dirk ärgerlich. »Darauf, dass Kinah schreiend an mir vorbeiläuft, weil sie sich von zwei fremden Männern verfolgt fühlt?« Er schüttelte den Kopf. »So ein Blödsinn! Wenn Kinah hier irgendwo ist, muss sie zuerst mich zu Gesicht bekommen …«
Er wollte noch mehr sagen, Biermann zur Eile antreiben, aber ein Geräusch schreckte ihn auf. Es war ein dunkles Grollen. Der Tsunami?
Dirk erstarrte. Das Geräusch hielt wahrscheinlich nicht einmal eine Sekunde lang an, und doch kam es ihm wie eine Ewigkeit vor, eine Ewigkeit, in der ihm der Schreck in die Glieder fuhr und ihm den Atem raubte. Er empfand ähnlich und doch wieder ganz anders als während der missglückten Landung; es war die gleiche nackte Todesangst, aber etwas viel tiefer Gehendes kam hinzu, etwas, von dem er noch nicht einmal geahnt hatte, dass es in ihm existierte, und das mächtiger war als all die übergestülpte Vernunft und das pseudowissenschaftliche Gebrabbel der menschlichen Zivilisation. Das Flugzeug war nichts weiter als ein technisches Spielzeug gewesen, dem er sich anvertraut hatte, etwas, das so wenig zur Natur gehörte wie ein Big Mac mit Pommes und Mayo. Hier ging es um den Instinkt. Den Instinkt, der Tiere dazu trieb, kurz vor einer Katastrophe das Weite zu suchen, wie es sicherlich auch die frühen Menschen getan hatten. Es ging um etwas, von dem Kinah immer wieder gesprochen hatte und das möglicherweise noch grundlegender war als der so genannte sechste Sinn. Etwas, das nichts mit dem zu tun hatte, weswegen er hergekommen war.
Irgendetwas geschah hier.
Irgendetwas geschah mit ihm.
Weiche nicht der Wahrheit aus.
Seine Tochter war in Lebensgefahr. Sie ist in Gefahr, weil ich einen schrecklichen Fehler gemacht habe. Der Satz war plötzlich in ihm. Er wusste nicht, was er bedeutete. Er wusste nur, dass er so schnell wie möglich von hier wegmusste. Nur, wohin?
»Dieser verdammte Idiot«, sagte Biermann.
Idiot? Dirk starrte ihn verwirrt an. Sein Verstand, der eben noch in sich zusammengefallen war, um seinen Instinkten Platz zu machen, schaltete sich schrittweise wieder ein, wie eine Maschine, die vorübergehend vom Stromnetz abgeklemmt worden war und nun stockend und Funken sprühend wieder zum Leben erwachte.
»Er hätte auf uns
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