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Sturm: Roman (German Edition)

Sturm: Roman (German Edition)

Titel: Sturm: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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nicht jetzt, da Dirks Leben an einem seidenen Faden hing.
    »Los!«, rief John, umklammerte Dirks Beine wie ein Schraubstock und zerrte an ihnen. »Du musst loslassen! Sonst kann ich dich nicht reinziehen.«
    Damit mochte er recht haben, aber Dirk konnte nicht loslassen. Durch das Gewicht seines Oberkörpers würde er rückwärts nach unten fallen und John mit sich reißen, dessen war er ganz sicher …
    »LASS LOS!«
    John brüllte es so laut, dass Dirk seinem Befehl unwillkürlich gehorchte. Und er fiel tatsächlich hintenüber und nach unten. Seine Schulter schrammte über Felsen, dann spürte er einen Ruck, weil jemand seinen Arm umklammerte und mit aller Macht an ihm riss, und in derselben Sekunde wurde aus der Abwärts- eine Seitwärtsbewegung, und er knallte mit der anderen Schulter gegen spitzes Gestein.
    John und er schrien gleichzeitig auf, dann purzelte er über Rastalocke und landete halb auf ihm, halb auf glitschigem Felsenuntergrund.
    Dirk hätte später nicht sagen können, wie lange er so liegen geblieben war, beinahe bewusstlos und mit einem Gefühl, als sei er stundenlang von mindestens einem halben Dutzend Schlägertypen bearbeitet worden.
    »Du bist solch ein Idiot, weißt du das?«, sagte John nach einer Weile, schob ihn von sich hinunter, rappelte sich auf und lehnte sich an die Felswand.
    »Nein …« Dirk rang nach Atem. »Das weiß ich nicht.«
    Dann musste er lachen, aus welchem Grund auch immer, und die Wände des Gangs warfen sein Gelächter so verzerrt zurück, dass es fast höhnisch klang. Rastalocke lachte nicht. Er drückte sich an ihm vorbei und rief in die Dunkelheit: »Birdie? Alles klar?«
    »Klar ist alles klar«, antwortete Biermann. »Ich mache mir nur Sorgen um Janette.«
    »Komm erst mal rüber«, sagte John. »Und dann erzählst du mir, was mit Janette los ist.«
    Dirk versuchte, sich hochzustemmen, um Biermann zu Hilfe zu kommen, aber er konnte seine Arme nicht bewegen. Nicht nur, dass sie unerträglich schmerzten, sie waren auch derart kraftlos, als hätten sie monatelang in Gips gelegen und jedwede Muskelkraft verloren.

Kapitel 10
    Auch zehn Minuten später hingen Dirks Arme noch an ihm hinab wie die eines Gorillas, nur dass sie dabei so schwach wie die eines uralten Mannes waren und sich seine Schultern anfühlten, als hätte ein Schmied auf sie eingedroschen. Nachdem sich die drei Männer in teilweise gebückter Haltung durch den modrig-feuchten Gang gequält hatten, waren sie schließlich auf die – oder zumindest eine – Grotte gestoßen. Biermanns Scheinwerfer schnitt einen Kegel in die zerklüftete Felslandschaft, die das Licht in gebrochenen Farben reflektierte. Es war nicht einfach blaugrauer Fels, es waren funkelnde Formationen und teilweise bizarre Ausformungen – ein beeindruckender Anblick, vor dem Dirk unter anderen Umständen sicher ehrfurchtsvoll verharrt hätte.
    Doch jetzt war er lediglich angespannt und fluchtbereit. Er hatte keinen Blick für das Naturschauspiel, sondern nur für die dunklen Ecken und Winkel, in denen ein Rattennest stecken konnte. Bislang hatten sie noch keinen Verwandten des Exemplars zu Gesicht bekommen, mit dem Rastalocke zu Anfang Bekanntschaft gemacht hatte, aber das hieß nicht, dass hinter dem nächsten Vorsprung, der nächsten Biegung oder dem nächsten Geröllhaufen nicht mehrere von diesen Biestern herumwuselten oder sich in dem brackigen, grünlich schillernden Wasser verbargen, durch das sie gerade wateten. Die Vorstellung drohte den letzten Rest von klarem Verstand, der ihm geblieben war, hinwegzufegen. Jeder Schritt, den er in die Schmutzbrühe setzen musste, kostete ihn Überwindung. Ratten und Wasser waren für ihn eine schreckliche Kombination, seitdem jenes fette braune Ekelvieh seinen Spielzeugsoldaten versenkt und ihn danach attackiert hatte.
    Das unruhige Scheinwerferlicht erhellte für einen Moment einen gar nicht glitzernden Bereich zu seiner Rechten. Er schien etwas höher gelegen zu sein als der übrige Boden, und das riss Dirk aus seiner düsteren Beklemmung. Er machte einen großen Schritt und setzte seinen Fuß auf diese trockene Stelle, die relativ rattensicher aussah und es hoffentlich auch war. Der strenge und zugleich leicht süßliche Geruch, der ihm dort in die Nase stieg, erinnerte ihn an etwas … an irgendetwas, das er nicht in Worte fassen konnte. Und dann wusste er plötzlich, woher er ihn kannte: aus Akuyis Zimmer. Auf einmal sah er sich wieder im Türrahmen lehnen und in ihr Zimmer starren,

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