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Sturm: Roman (German Edition)

Sturm: Roman (German Edition)

Titel: Sturm: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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»Kinah … Wir müssen sie finden … Bevor hier etwas geschieht.«
    Ein Zug, Dirk erinnerte sich ganz genau, ein indischer Zug, der die Küste entlanggefahren war, hoffnungslos überfüllt mit tausend oder mehr Passagieren, Menschen, die wegen eines bevorstehenden Feiertags auf dem Weg nach Hause oder zu Verwandten waren. Obwohl die dem Tsunami am nächsten gelegenen Länder bereits verwüstet waren, hatte der Zug seine Reise fortgesetzt. Niemand verständigte den Zugführer, niemand hielt den Zug mit einem Stoppsignal an, also schwenkte er auf die Küstenstrecke ein wie immer. Und dann hatte die Welle den Zug erwischt, hatte ihn wie die Hand einer wütenden Gottheit, die nicht länger zusehen wollte, was die Menschen dem Antlitz der Erde antaten, aus den Gleisen gehoben und zerschmettert. Und jetzt wollte dieselbe Gottheit auch diesen Küstenstrich zerschmettern – und damit zufällig auch ihn, Biermann und John … und Kinah, falls sie sich tatsächlich noch in der Nähe aufhielt.
    Was für ein Wahnsinn! Um ein Haar hätte Dirk laut aufgelacht. Die Entscheidung lag bei ihm: Er konnte Biermann und John, die völlig ahnungslos waren und ein Stück vor ihm gerade im Dunkel der Nacht verschwanden, warnen, konnte ihnen zuschreien, dass sie hier wegmussten, sofort, wenn ihnen ihr Leben lieb war. Dann würden sie gemeinsam zurück zum Roamer hetzen, sich in den Wagen werfen und in der Hoffnung losdonnern, dass ihnen genug Zeit blieb, um eine höher gelegene Region zu erreichen. Oder er konnte alles auf eine Karte setzen und hoffen, dass er sich täuschte oder dass sie zumindest mehr Zeit hatten, als er glaubte, und dass es ihm gelingen würde, Kinah zu finden und zu retten, bevor das Verhängnis seinen Lauf nahm …
    Es hätte eine Entscheidung sein können – wenn er die beiden anderen Männer in das eingeweiht hätte, was er beobachtet hatte. Aber er dachte gar nicht daran. Wenn Biermann und John etwas zustieß, dann war das Berufsrisiko. Wenn Kinah etwas zustieße, wäre das eine Katastrophe.
    Das gab den Ausschlag. Dirk eilte los, um die beiden einzuholen, mit Schritten, die laut und hart von Boden widerhallten, als wollten sie seine Entschlossenheit trotzig dem Meer entgegenwerfen. Die Natur rächte sich auf ihre eigene Weise. Kaum hatte er den Bungalow passiert, schlug ihm ein eiskalter Wind entgegen. Er zog und zerrte nicht an seiner Kleidung, sondern traf mit purer Kälte auf seine Stirn, seine Nase und seine Hände. Es war beinahe so, als sei Dirk aus einer Blockhütte in Kanada getreten, anstatt den Windschatten eines afrikanischen Bungalows zu verlassen. Doch all dies war unwichtig, nichts zählte mehr – nicht die Menschen, mit denen er hierhergekommen war, nicht die kreatürliche Angst, die er im Moment des Begreifens empfunden hatte, nicht die Erkenntnis, dass die Fernsehberichte über Tsunami-Katastrophen hier und jetzt zu seiner eigenen, tödlichen Wirklichkeit werden konnten. Er wusste nur eines: Er vermisste Kinah viel stärker, als ihm bisher bewusst gewesen war. Sie war sein Leben. Sie und Akuyi, das Kind ihrer Liebe. Dauerhaft von ihnen getrennt zu sein wäre unerträglich. Er musste alles, aber auch wirklich alles tun, um zu verhindern, dass die Tür zuschlug, die sich gerade erst einen Spalt weit geöffnet hatte.
    »Alles in Ordnung?«, fragte Biermann, den er inzwischen eingeholt hatte.
    Alles in ORDNUNG? Dirk hätte am liebsten hysterisch gelacht. Gab es überhaupt irgendetwas, was in Ordnung war? Vor ein paar Stunden hatten sie im Keller des Hauses, in dem Kinah höchstwahrscheinlich gewohnt hatte, eine stark verweste Leiche entdeckt, waren dann von einem Kerl vertrieben worden, der sie beinahe mit einer Schrotflinte zusammengeschossen hätte – und jetzt schlichen sie mitten in der Nacht hier herum, während sich das Meer zurückzog, als wolle es Kraft sammeln für den entscheidenden Schlag, für die Wassermassen auftürmende, rasende Springflut, die den gesamten Küstenabschnitt zermalmen würde, und mit ihm hunderte, vielleicht tausende von Menschen. Al Afra und andere Küstenorte würden einem Tsunami nichts entgegenzusetzen haben, und Dirk verspürte sogar einen gewissen Groll gegenüber den hier lebenden Menschen, weil sie es versäumt hatten, sich und ihre Küste ausreichend zu schützen.
    Da fiel ihm plötzlich auf, dass neben ihm nur ein Schatten ging, ein Schatten, an dem alles dunkel war bis auf das Gesicht, das das schwache Mondlicht reflektierte, und die grüne Krawatte, die

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