Sturm: Roman (German Edition)
Schüsse. Ich habe keine Ahnung, was mit ihnen passiert ist.«
»Birdie ist nicht der Typ, der sich einfach abknallen lässt«, brummte Lubaya aus der Ecke, in die sie sich zurückgezogen hatte, um ihr Hexenwerk zu vollenden. »Außerdem haben er und John Rasul Glück gehabt, dass sie mit dir in die Höhle gekommen sind. Oben tobt zurzeit ein Sturm, wie du ihn dir nicht einmal in deinen schlimmsten Albträumen vorstellen kannst.«
»Moment mal …« Dirk hatte gesehen, wie sich das Meer zurückgezogen hatte, und geahnt, was das bedeutete. Er hatte durchaus begriffen, dass es draußen stürmte, aber vielleicht maß er dem Sturm nicht die Bedeutung bei, die er in Wirklichkeit hatte. »Soll das etwa heißen …«
»Das soll heißen, dass es diesmal die marokkanische Küste mit voller Wucht getroffen hat«, antwortete Olowski bitter. »Ich habe vor einiger Zeit mit dem zuständigen Ministerium Kontakt aufgenommen. Anfangs wollte man mich gar nicht erst vorlassen. Irgendwann saß ich dann in einem schmierigen kleinen Büro und erinnerte einen völlig desinteressierten Fettwanst daran, was geschah, als Marokko zweitausendvier zum ersten Mal von einem Tsunami getroffen wurde. Und ich warnte ihn, dass es diesmal viel schlimmer werden könnte. Aber er hörte mir nicht einmal richtig zu. Warum sollte er auch, es ging ja bloß um das Leben tausender seiner Landsleute.«
Um das Leben der Menschen, die Dirk gestern auf den Straßen von Al Afra gesehen hatte. Die ihnen im Auto entgegengekommen waren. Die an diesem Küstenabschnitt lebten.
»Wir haben Biermanns Freundin im Wagen zurückgelassen«, sagte er tonlos. »Sie wollte oben an der Straße auf uns warten.«
»Hoffentlich hat sie das einzig Richtige getan und ist weggefahren, als das Unwetter kam«, sagte Olowski. »Und zwar so schnell, als sei der Teufel hinter ihr her.«
Seine Stimme klang erschreckend ungerührt. Er redete, als würde er jemandem den Tipp geben, bei schlechtem Wetter einen Regenschirm aufzuspannen.
»Hören Sie, Gallwynd«, fuhr Olowski fort, als könnte er Dirks Gedanken lesen. »Dort draußen findet gerade eine Katastrophe statt. Da hat sich niemand bei einem Kindergeburtstag den Knöchel verstaucht, da hat es Hunderte, wenn nicht gar Tausende Menschen erwischt. Wir haben versucht, die Behörden und die Bevölkerung zu warnen, aber wir haben versagt.« Seine Ungerührtheit war plötzlich einer tiefen Verbitterung gewichen. »Diese Grotte ist ein sehr alter Ort, ein heiliger Ort, ein Schutzort. Es war ein verdammt hartes Stück Arbeit, Sie aus dem Gang zu holen, durch den Lubaya Sie geführt hat, und hierher zu bringen. Dabei hätte es mich auch fast erwischt.«
»Ich verleihe Ihnen bei nächster Gelegenheit einen Orden«, sagte Dirk trotzig.
»Was?« Olowski wirkte für einen Moment irritiert. »Sie haben wohl immer noch nicht begriffen, worum es geht, nicht wahr?«
»Dann sagen Sie es mir«, forderte ihn Dirk auf.
»Gerne. Der Sturm hat für kurze Zeit einen Teil der Höhlen erobert, aber er kann nicht bis in die innersten Grotten vorstoßen. Wir hätten Menschen hierher bringen und retten können. Aber sie wollten nicht, verstehen Sie? Sie haben uns ausgelacht.« Olowskis Stimme erstarb fast. »Und jetzt sind etliche von ihnen tot. Nur deshalb, weil sie es gewohnt sind, auf Politiker zu hören, deren oberster Grundsatz lautet: Nur keine Panik. Lieber gehen sie das Risiko ein, dass Menschen sterben und ganze Landstriche entvölkert werden.«
Dirk starrte ihn ungläubig an. Dann fiel ihm die zweite Tsunami-Katastrophe ein, die die Küste von Indonesien verwüstet und die Menschen unvorbereitet getroffen hatte – und das, obwohl nicht nur der Tsunami an sich vorhergesagt worden war, sondern gleich drei Institute die heranrasende Flutwelle gemeldet hatten. Aber selbst das hatte die Behörden nicht dazu gebracht, Alarm zu schlagen. »Das ist ja der Gipfel des Zynismus«, brachte er mühsam hervor.
»Das können Sie laut sagen«, stimmte Olowski zu. »Aber Zynismus und Lügen gehören nun mal zum Politikerhandwerk. Das sollten eigentlich alle Menschen wissen.«
»Sie meinen, dass Politiker grundsätzlich lügen?«
»Nicht grundsätzlich«, widersprach Olowski. »Aber immer dann, wenn es ihren Zielen dient.«
»Und ihr Ziel ist es, Menschen umzubringen?«, begehrte Dirk auf. »Machen Sie sich doch nicht lächerlich!«
Olowski runzelte die Stirn. »Ihr Ziel ist der Machterhalt, oft gepaart mit finanzieller Gier. Deswegen wird von offizieller
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