Sturm ueber Cleybourne Castle
und begann, die Schmuckstücke auszusortieren. Es dauerte nicht lange, bis sie feststellen konnte, dass nichts außer einem einzelnen Ohrring fehlte.
„Ich begreife einfach nicht..."
„Ich auch nicht, Miss. Es ist schade um das Kästchen. Es sah so hübsch aus."
„Ja", erwiderte Jessica und schluckte rasch die aufsteigenden Tränen hinunter.
„Mein Vater schenkte es mir, als ich so alt wie Gabriela war. Gestern habe ich bemerkt, dass es verschwunden war. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, was damit geschehen war." Ratlos fuhr sie mit den Fingern durch die Holzstücke auf der Bettdecke. „Und ich kann mir auch jetzt noch kein Bild machen. Anscheinend hatte niemand Interesse an den Schmuckstücken. Der fehlende Ohrring wird sich sicher noch in irgendeiner Ecke anfinden. Aber warum stiehlt jemand ein Schmuckkästchen und nimmt dann den Schmuck nicht mit? Und warum zertrümmert er es derartig? Es war doch gar nicht abgeschlossen."
„Ja, es ist wirklich komisch, Miss. Und wie kommt es in das Musikzimmer? Ich habe es sofort zu Baxter gebracht. Aber er konnte sich auch keinen Reim darauf machen, und deshalb sollte ich es zu Ihnen bringen."
Jessica betrachtete die Holzreste und versuchte, sie wieder zusammenzusetzen.
Doch es war unmöglich. Der Unbekannte hatte das unschuldige Kästchen, vielleicht in einem Wutanfall, völlig demoliert.
„Möglicherweise hat es jemand als eine kostbare Beute betrachtet", sagte sie nachdenklich, während sie die Stücke hin und her schob. „Und als er merkte, welchen geringen Wert die Schmuckstücke hatten, vor Ärger und Enttäuschung zertreten." Oder hatte es jemand nur aus dem einzigen Grund zerstört, weil es ihr Eigentum war? Nur aus Hass auf sie? Es war ein bedrückender Gedanke.
„Kann schon sein, Miss. Aber von uns war es bestimmt niemand", erwiderte Flora. „Wir mögen Sie alle, und stehlen tut von uns sowieso keiner."
„Nein, nein, ich habe auch nicht angenommen, dass es jemand von der Dienerschaft war."
Die beiden blickten sich viel sagend an, denn nun blieb ja nur noch die Möglichkeit, dass einer der Gäste sich daran vergriffen hatte. Schließlich sagte Flora: „Das ist schon eine verrückte Sache, Miss."
Jessica nickte schweigend, während das Mädchen nach einem höflichen Knicks aus dem Zimmer huschte. Dann setzte sie sich auf die Bettkante und spielte nachdenklich mit den Holzrestchen auf der Decke. Seit kurzem gingen die werkwürdigsten Dinge im Hause vor. Was, um alles in der Welt, mochte wohl dahinter stecken? Plötzlich fiel ihr Miss Pargetys Bemerkung über das Kommen und Gehen und das Türenklappen in der Nacht ein. Cleybourne hatte etwas Ähnliches gesagt, als er den Eindringling in seinem Arbeitszimmer überraschte. Es war zwar unerklärlich, was das alles miteinander und auch mit ihrem zerschlagenen Schmuckkästchen zu tun hatte. Aber sie würde nur zu gern herausfinden, wer neulich in den Kinderzimmern gewesen war und wer das Kästchen kaputtgemacht hatte, an dem ihr Herz so sehr hing.
Deshalb fasste Jessica den Entschluss, in der kommenden Nacht wach zu bleiben und zu beobachten, wer sein Zimmer verließ und wohin er ging. Vielleicht sollte sie zu diesem Zweck ihre Tür einen Spalt offen lassen? Aber nein, von der Halle aus wäre alles besser zu überblicken. Am Fuße der Treppe stand eine große Topfpflanze neben einem kleinen Tisch. Dort könnte sie sich gut verstecken und gleichzeitig alle Zimmertüren im Auge behalten. Wenn sie ein dunkles Kleid und weiche Hausschuhe anziehen würde, wäre sie fast unhörbar und unsichtbar - bis auf das helle Gesicht. Aber einen schwarzen Schal wie der Eindringling wollte sie nicht überziehen. Wenn jemand aus dem Haus sie in dieser Aufmachung überraschte, könnte es sehr peinlich für sie werden.
Je länger Jessica darüber nachdachte, desto mehr begeisterte sie sich für diesen Plan.
Den Abend verbrachte sie in Erwartung der kommenden Ereignisse und war bei allem, was sie tat, mit ihren Gedan ken nicht recht bei der Sache. Nur mit halbem Ohr hörte sie auf das fröhliche Geplauder von Gabriela, die ihr berichtete, dass sie mit Lady Westhampton und dem Duke Karten gespielt habe und dass es sehr lustig gewesen sei. Als die Zeit für das Abendessen herangekommen war, zog sie sich um, sah noch einmal nach Rachels Befinden und ging dann hinunter in das Speisezimmer.
Die Mahlzeit verlief wie immer. Die Speisen waren ausgezeichnet und die Gäste alles andere als amüsant. Aber an diesem Abend widmete
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