Sturm ueber Cleybourne Castle
hat."
„Ich fürchte, ich kann Sie nicht davon überzeugen, dass es besser ist, wenn Sie wieder in Ihr Zimmer gehen und mich allein Wache halten lassen, nicht wahr?" Energisch schüttelte Jessica den Kopf. „Ich gehe nicht weg, denn ich habe an der Sache ein ganz besonderes Interesse."
„Und worin sollte dieses besondere Interesse bestehen?" erkundigte sich Richard mit leichtem Spott.
Noch bevor Jessica antworten konnte, wurde eine der Zimmertüren geöffnet, und die beiden pressten die Stirn an das Flechtwerk, damit ihnen keine Bewegung im Hause entging. Eine Frau in einem dunklen Négligé und verführerisch gelöstem Haar schlich vorsichtig durch den Gang. Es war Leona Vesey.
Ein paar Türen weiter klopfte sie kaum hörbar an. Sofort wurde von einem Mann geöffnet. Er war nur mit Hosen und einem lose herabhängenden Hemd bekleidet. Zu Jessicas größter Überraschung handelte es sich dabei unzweifelhaft um Reverend Radfield. Hastig ergriff er Leonas Hand und zog sie über die Schwelle. Doch sie hatte sich ohnehin bereits mit einem lüsternen Kichern an seine Brust gedrückt. Dann wurde die Tür lautlos wieder geschlossen.
Kopfschüttelnd blickte Jessica auf Cleybourne, der nur verächtlich die Augenbrauen hochzog, mit den Schultern zuckte und wieder in die Halle spähte. Ein Zeit lang blieb alles ruhig. Während auch Jessica den Blick wieder auf die Zimmertüren richtete, wurde ihr bewusst, wie nahe sie Richard war - so nahe, dass sie sich fast berührten. Sie konnte seinen Atem hören und seinen ganz eigenen, einmaligen Duft, gemischt aus Rasierseife und Mann, riechen. Ganz ohne Zweifel war dieses heimliche Beieinandersitzen im Dunkeln viel zu vertraulich und stand im krassen Gegensatz zu ihrem Entschluss, ihn nach Möglichkeit zu meiden. Wenn er sich zu ihr neigte, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern, liefen prickelnde Schauer über ihre Haut, und die Erinnerung an seine Küsse und seine lustvoll erregenden Zärtlichkeiten nahm sie erneut gefangen. Vergebens sagte sie sich, dass sie sich unnötig der Versuchung aussetzte und lieber wieder in ihr Zimmer gehen sollte. Sie würde es ja doch nicht fertig bringen, ihren Lauschposten zu verlassen.
Ein Geräusch schreckte die beiden auf. Sie pressten das Gesicht wieder an das Flechtwerk und sahen, wie Lord Vesey durch den Gang schlenderte und vor Gabys Tür stehen blieb. Angstvoll hielt Jessica den Atem an. Vesey ergriff die Klinke und drückte sie nieder, aber die Tür gab nicht nach. Gabriela hatte, wie ihr eindringlich nahe gelegt worden war, von innen abgeschlossen! Einen Herzschlag lang stand der Lord unschlüssig vor der verschlossenen Tür. Dann hob er scheinbar gleichmütig die Schultern und stieg die Treppe hinab.
„Wo mag er hingehen?" flüsterte Jessica.
„Keine Ahnung. Vielleicht sollte ich ihm folgen. Sie könnten ja hier bleiben und weiterhin aufpassen, bis ..."
Richard hielt inne, als eine weitere Tür geöffnet wurde. Diesmal hatte Mrs. Woods ihr Zimmer verlassen. Sie trat einen Schritt in den Korridor, sah sich aufmerksam nach allen Seiten um und ging dann leise tiefer in den Gang hinein.
„Das ist ja wie in einer französischen Komödie", murmelte Cleybourne.
Ihr Ziel war offensichtlich ein Zimmer, dessen Tür nicht mehr im Blickwinkel der beiden Lauscher lag. Man hörte, wie sie leise geöffnet und dann wieder geschlossen wurde. Ein Klopfen war nicht zu vernehmen gewesen.
„Wer hat ihr denn aufgemacht?" fragte Jessica.
„Ich konnte es nicht sehen, aber soviel ich weiß, gehört dieses Zimmer Lord Kestwick."
„Demnach hat Lady Vesey ein Rendezvous mit dem Pfarrer, und Mrs. Woods ist mit Lord Kestwick verabredet. Ich frage mich jetzt nur noch, mit wem sich Lord Vesey treffen will."
„Für seinen Geschmack ist von meinen Hausmädchen keine mehr jung genug", erwiderte Richard. „Aber ich kann beim besten Willen keine Verbindung zwischen diesen nächtlichen Liebeleien und dem Einbruch in meinem Arbeitszimmer erkennen.
Dadurch komme ich zwangsläufig wieder auf Lord Vesey als den Eindringling." Angestrengt spähte er in die Halle. „Bei dem Verkehr, der heute Nacht in meinem Hause herrscht, werde ich bestimmt mit irgendjemandem zusammenstoßen, wenn ich mich an seine Fersen hefte", bemerkte er trocken und erhob sich. „Nun, ich werde Vesey nachgehen. Sie bleiben hier und passen weiter auf."
Jessica nickte schweigend, und Richard schlich lautlos durch die Halle davon. Die nächsten Minuten blieb alles ruhig. Nichts rührte sich.
Weitere Kostenlose Bücher