Sturm ueber Cleybourne Castle
stahl. Und jetzt, nach der langen Kutschfahrt, hatte sich gar ein großer Teil ihrer Locken gelöst und umrahmte flammend rot ihr Gesicht. Wahrscheinlich sehe ich wirklich zum Erschrecken aus, dachte sie, während sie verwirrt nach den Haarnadeln tastete, um den Knoten wieder zu befestigen, jedoch mit dem einzigen Ergebnis, dass nun noch mehr lockige Strähnen auf ihre Schultern fielen.
Gegen seinen Willen konnte der Duke sich nicht von dem Anblick der im Lampenschein warm glänzenden Haare losreißen, wobei er ein lange nicht mehr gekanntes Ziehen in der Magengrube spürte. Diese rot leuchtende Fülle verlockte einen Mann dazu, seine Hände darin zu vergraben. Allerdings war das nicht die Art von Gedanken, die er im Allgemeinen in Bezug auf eine Gouvernante hatte - um ehrlich zu sein, nicht einmal hinsichtlich irgendeiner Frau.
Seit Carolines Tod hatte er sich von der Welt zurückgezogen und insbesondere die Gesellschaft von Frauen gemieden. Ihr perlendes Lachen, der goldene Glanz des Kerzenscheins auf bloßen Schultern, der Hauch von Parfüm - all das erinnerte ihn an seinen Verlust, und ein Gefühl von Abwehr erfüllte ihn, wann immer er sie betrachtete. Das einzige weibliche Wesen, außer den Dienstmädchen und der Haushälterin, mit dem er regelmäßig zusammentraf, war die Schwester seiner Frau, Rachel, wenngleich es besonders schmerzhaft für ihn war, da sie Caroline so ähnlich sah: groß, schwarzhaarig und mit Augen so grün wie Gras. Aber er mochte sie zu sehr, um ihr aus dem Weg zu gehen. Sie war der einzige Mensch, der seinen Kummer aufrichtig teilte.
Niemals hatte er in den vier Jahren seit Carolines Tod beim Anblick einer Frau ein Lustgefühl empfunden. Natürlich war in ihm hin und wieder das normale Verlangen eines gesunden jungen Mannes wach geworden. Doch das war rein körperlich gewesen und nicht vergleichbar mit der Erregung beim Anblick der Locken und der wohlgeformten Schultern einer ganz bestimmten Frau oder beim Klang ihrer Stimme.
Deshalb erschien es ihm absurd, dass es ausgerechnet bei dieser aufdringlichen Gouvernante geschehen sollte. Es ließ sich zwar nicht leugnen, dass sie schön war -lebhaft und ganz und gar nicht alltäglich, mit leuchtenden blauen Augen, zarter cremefarbener Haut und dieser Fülle roten Haares. Selbst das schmucklose schwarze Kleid, das sie trug, konnte ihre wohlgeformte, schlanke Figur nicht verbergen.
Aber sie war auch lärmend, vorlaut und gänzlich ohne Manieren. Richard glaubte, nie zuvor einer Frau begegnet zu sein, die sich weniger weiblich aufgeführt hatte. Deshalb wollte er sie auch nicht in seinem Hause haben -weder sie noch das Mädchen, dessen Gouvernante zu sein sie vorgab. Schließlich war er nach Cleybourne Castle gekommen, um seinem Leben ein Ende zu setzen, das für ihn bereits vor vier Jahren aufgehört hatte. Wie könnte er das mit diesem zänkischen Weibsbild und einem albernen kleinen Mädchen in seiner Nähe tun?
„Woher soll ich wissen, dass Sie die Wahrheit sagen?" fragte er mürrisch. „Welche Beweise haben Sie dafür?"
Jessica, die vergeblich versucht hatte, ihren Knoten wieder aufzustecken, wurde erneut zornig. „Ich fände es schrecklich, wenn ich so misstrauisch wäre wie Sie", versetzte sie bissig. „Erst unterstellen Sie uns, dass wir auf der Jagd nach einem reichen Ehemann sind, und nun bezweifeln Sie sogar, dass diese arme Waise wirklich Ihr Mündel ist."
„Man wird durch schlechte Erfahrungen misstrauisch", erwiderte der Duke gleichmütig. „Aber was wollen Sie eigentlich? Wenn Ihre Geschichte wahr ist, dann müssen Sie doch auch Beweise dafür haben."
„Natürlich habe ich die." Bei ihrer Ankunft auf Cleybourne Castle hatte Jessica vorsorglich das Testament und den Brief des Generals in die Tasche ihres Rockes gesteckt und reichte nun beides dem Duke. „Hier ist das Testament von General
Streathern und sein Brief, in dem er Ihnen die näheren Umstände darlegt. Eine Kopie seines Totenscheines habe ich allerdings nicht - falls Sie bezweifeln sollten, dass er tatsächlich verstorben ist."
Cleybourne kniff die Lippen zusammen, während er das Testament überflog, bis er an jene Stelle gelangte, in welcher er als Vormund für die Großnichte des Testators, Gabriela Carstairs, Tochter von Roderick und Mary Carstairs, benannt worden war. Seufzend faltete er das Papier wieder zusammen. Armer Roddy! Plötzlich erinnerte er sich genau des Jahres, in dem sein Freund und dessen junge Frau an einem Fieber starben, das zu
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