Sturm ueber Cleybourne Castle
„Läute dem Diener, Vesey. Ich glaube, ich muss mich wieder in mein Zimmer bringen lassen und ins Bett legen." „Selbstverständlich, meine Liebe." Ihr Mann sprang auf und lief zu der Klingelschnur. Jessica hatte längst gemerkt, dass der Lord kein Interesse mehr an einem längeren Verweilen in dem Blauen Salon hatte, seit Gabriela verschwunden war, und auch seiner Frau lag offensichtlich nichts mehr daran, da der Duke ihr nicht Gesellschaft leistete.
Mit einer Mischung aus Belustigung und Ärger beobachteten Lady Westhampton und Jessica die theatralische Szene des Rückzuges von Lord und Lady Vesey. Es bedurfte dazu zweier Lakaien, einer Zofe, die das Kopfkissen und das Riechsalz der Kranken trug, und Veseys als Kommandeur der Truppe. Mehrere Minuten waren vonnöten, bis der Zug sich formiert hatte, und als endlich wieder Ruhe eingetreten war, wurde diese noch einmal dadurch gestört, dass die Zofe zurückkehrte, um Leonas Schal zu holen.
Als die Tür zum zweiten Male geschlossen wurde, wandte Rachel sich an Jessica. „Ich bin wirklich sehr froh, Sie hier zu finden, Miss Maitland. Und ich freue mich auch darüber, dass Richard sich nun um ein Mündel kümmern muss. Das wird seinem Leben Sinn geben und ihm ... einen ... "
„Einen Grund, um weiterzuleben?" vollendete Jessica impulsiv.
Erschrocken starrte Lady Westhampton sie an. „Was wollen Sie damit sagen?" Sie ergriff den Arm ihrer Nachbarin und schüttelte ihn ein wenig. „Ist irgendetwas geschehen? Hat Richard ..."
„Ich bitte um Verzeihung", erwiderte Jessica rasch und schalt sich insgeheim wegen ihrer vorlauten Bemerkung. „Ich hätte nichts sagen sollen, denn ich will Sie natürlich nicht beunruhigen."
„Ich bin lieber beunruhigt als ahnungslos. Bitte erklären Sie mir, warum Sie dieser Meinung sind."
„Ich habe mich neulich, kurz nach unserer Ankunft, mit der Haushälterin unterhalten. Der Duke hatte es nämlich abgelehnt, die Vormundschaft zu übernehmen, worüber ich sehr ärgerlich war."
„Hat er sich wirklich geweigert?"
„Er sagte mir, er wolle sich nach jemand anderem umsehen, wobei Ihr Name fiel." „Mein Name?" rief Lady Westhampton überrascht und fügte dann nachdenklich hinzu: „Ich denke schon, dass ich ... Aber es wäre viel besser, wenn er diese Pflicht auf sich nehmen würde."
„Das meinte die Haushälterin auch. Sie hat mir erzählt, was vor vier Jahren geschehen ist und warum der Duke wahrscheinlich kein Kind mehr um sich haben möchte."
Rachel nickte traurig. „Ja, Richard hat den Tod meiner Schwester und meiner kleinen Nichte nie überwunden. Er hat beide von Herzen geliebt."
„Er wollte Gabriela nicht einmal sehen", fuhr Jessica fort. „In Anbetracht seiner Pläne, das Mädchen in andere Hände zu geben, hielt er es für besser so."
„Oh nein!" Betroffenheit lag plötzlich auf Lady Westhamptons freundlichem Gesicht. „Ich weiß wahrhaftig nicht, wen ich mehr bedauern soll: meinen Schwager oder das arme kleine Ding."
„Miss Brown vertraute mir auch an, dass Sie zu Baxter gesagt hätten, der Duke würde ... nun, sie schien anzunehmen, Sie fürchteten, er wolle sich etwas antun." „Das habe ich tatsächlich gesagt", gab Rachel offen zu. „Ich mag Richard sehr. Er ist wie ein Bruder für mich. Die vergangenen vier Jahre waren sehr schwer für ihn, und in letzter Zeit wurde seine Stimmung immer düsterer, als habe er jede Hoffnung auf ein besseres Leben aufgegeben. Als ich dann den Brief erhielt, in dem er mir seine Abreise nach Cleybourne Castle mitteilte, war ich schrecklich besorgt. Richard war so lange nicht mehr hier gewesen, und ich fragte mich vergebens, was ihn wohl veranlasst haben mochte, wieder in das Schloss zurückzukehren - und noch dazu im Dezember, in dem sich der Tag des Unglücks wieder jährt. Die Sache ließ mir keine Ruhe, und deshalb bin ich hierher gekommen. Das heißt, ich hatte meinen Bruder Devin und seine junge Frau besucht und wollte eigentlich pünktlich zu den Feiertagen wieder in Westhampton House sein. Aber ich war so in Sorge ..."
„Darf ich aufrichtig sprechen, Lady Westhampton?"
„Oh ja, ich wäre Ihnen sogar sehr dankbar dafür."
„Dann muss ich sagen, dass Ihre Befürchtungen nicht unberechtigt gewesen sind." Ein Schatten legte sich auf Rachels Züge. „Will er tatsächlich Hand an sich legen?"
„Es hat den Anschein. Neulich wollte ich mir abends noch ein Buch aus der Bibliothek holen und kam dabei an seinem Arbeitszimmer vorbei. Er saß an seinem Schreibtisch,
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