Sturm ueber Cleybourne Castle
verirrt."
„Auf dem Weg von Norfolk nach London? Und da fahren sie durch Yorkshire?"
Jessica zuckte mit den Schultern. „Man kann nicht behaupten, dass Lord Vesey besonders schlau ist beim Erfinden von Geschichten. Aber sie waren nun einmal da, und es war bereits dunkel. Der Duke gestattete ihnen also, über Nacht in Cleybourne Castle zu bleiben. Heute Morgen sollten sie wieder abreisen, aber bei ihrem Aufbruch schien Lady Vesey die Treppe hinabgestürzt zu sein und sich den Fuß verletzt oder - nach der von ihr bevorzugten Version - den Knöchel gebrochen zu haben."
Sie beschrieb die Szene am Fuße der Treppe, die sie am Morgen beobachtet hatte, so lebhaft und imitierte die Veseys dabei so treffend, dass Lady Westhampton in schallendes Gelächter ausbrach.
„Die Unverschämtheit dieser Person kennt wahrlich keine Grenzen", bestätigte Rachel. „Aber ich begreife nicht, was sie hier will. Sie erwartet doch nicht, dass sie Richard in ihr Netz locken kann! Sicherlich ist sie auf einen reichen Liebhaber aus, nachdem mein Bruder Devin sie verlassen hat... aber Richard? Ist ihr nicht bekannt, dass er sie regelrecht verabscheut? Im Übrigen tut das jeder von uns."
Bei diesen Worten erinnerte sich Jessica an einen Brief ihrer Freundin. Viola hatte ihr einmal geschrieben, dass Lady Vesey jahrelang in aller Öffentlichkeit ein Verhältnis mit dem Earl of Ravenscar, Devin Aincourt, unterhalten und ihn nun aber vor ein paar Wochen an eine reiche amerikanische Erbin verloren hatte. Diese Angelegenheit war in den betreffenden Gesellschaftskreisen in aller Munde gewesen. Offensichtlich war der „Bruder Devin", von dem Lady Westhampton gesprochen hatte, jener Devin Aincourt, der so lange Zeit unter dem Einfluss von Leona gestanden hatte. Und demzufolge handelte es sich bei seiner jungen Frau um eben, jene amerikanische Erbin, der es zur Freude insbesondere vieler Damen gelungen war, Lady Vesey aus dem Feld zu schlagen.
„Ich fürchte, Lady Vesey ist nicht in der Lage zu begreifen, dass ihr nicht sofort jeder Mann zu Füßen fällt", sagte Jessica. „Vom ersten Augenblick an hat sie nämlich unter Aufbietung aller Mittel mit dem Duke geflirtet. Das ist wohl auch der Grund dafür, dass er sich in letzter Zeit so rar gemacht hat", fügte sie mit einem spöttischen Lächeln hinzu.
„Das sollte mich nicht wundern", erwiderte Rachel. „Aber warum hat sie sich ausgerechnet Richard ausgesucht? Es ist doch bestimmt kein Zufall gewesen, dass die Veseys gerade in Cleybourne Castle Halt gemacht haben. Und welche Frau würde denn schon ihren Gatten mitnehmen, wenn sie beabsichtigt, einen anderen Mann zu verführen?"
Jessica nickte. „Es war bestimmt kein Zufall. Ich weiß zwar nicht, was Lady Vesey mit dem Aufenthalt hier bezweckt. Was den Lord hierher geführt hat, ist mir jedoch nur zu gut bekannt." Mit raschen Worten gab sie dessen Charakterisierung durch den General wieder und berichtete von Veseys Wunsch, Gabrielas Vormundschaft zu übernehmen. „Ich bin deshalb überzeugt, dass er uns sofort gefolgt ist, als es sich herausstellte, dass wir unmittelbar nach der Trauerfeier abgereist sind. Vielleicht hofft er sogar, dass Leona mit ihrem Charme den Duke dazu bringen könnte, freiwillig von dieser Aufgabe zurückzutreten."
„An so etwas würde Richard nicht einmal im Traum denken!" rief Lady Westhampton empört. „Und wenn es ihm noch so ungelegen käme, eine Vormundschaft zu übernehmen, niemals würde er ein schutzloses Kind einem solchen Lumpen wie Vesey anvertrauen."
„Ich weiß", erwiderte Jessica. „Anfangs habe ich zwar gefürchtet, er könnte es tun. Aber inzwischen bin ich davon überzeugt, dass er zu anständig dafür ist und Veseys Charakter auch zu gut kennt."
Ihr Gespräch wurde von dem Eintritt des Butlers unterbrochen, der einen kleinen Wagen, beladen mit Teetassen, einer Teekanne, Sahne, Zucker und silbernen Platten voller Sandwichs und Törtchen, über die Schwelle rollte.
„Ich dachte, dass Sie eine kleine Stärkung gebrauchen könnten, Mylady", sagte er mit einem freudigen Blick auf Rachel.
„Danke, Baxter. Sie haben, wie immer, Recht. Es ist schön, Sie wieder einmal zu sehen."
Baxter schob den Wagen vor das Sofa. „Ich bin über Ihren Besuch auch sehr froh, Lady Westhampton. Und Seine Gnaden wird sehr glücklich über Ihre Anwesenheit sein. Ich habe schon einen Diener ausgeschickt, um ihn zu holen. Er geht gerade mit Miss Gabriela im Garten spazieren."
„Mit Gabriela?" rief Jessica
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