Sturm ueber Cleybourne Castle
fallen und öffnete dabei ungewollt den viel zu großen Mantel. Ein paar Sekunden stand sie wie angewurzelt auf der Schwelle, bis Richard erneut ihren Arm ergriff, um sie, wenn es denn sein musste, persönlich bis an ihr Bett zu bringen.
In diesem Augenblick erklangen Schritte auf der Treppe. Die beiden fuhren herum und erblickten Jessica, die peinlich berührt und ein wenig ratlos auf der letzten Stufe stehen geblieben war. Sie trug noch ihr einfaches dunkles Kleid, hatte aber die Haare bereits für die Nacht gebürstet und nur mit einem Band lose im Nacken befestigt. In ihrer Hand hielt sie ein Buch.
Das Pärchen an Cleybournes Schlafzimmertür gab ihrer Meinung nach ein unmissverständliches Bild ab. Lady Vesey trug einen Männerschlafrock, der trotz seiner Größe ihre Nacktheit darunter nicht völlig verhüllte, und der Duke schien sie am Arm zurückhalten zu wollen.
Er hat sein Verlangen bei Leona Vesey gestillt!
Jessica rang nach Luft und lief dann Hals über Kopf davon, ohne zu wissen wohin - nur fort, weit fort von dieser abstoßenden Szene! In ihr Zimmer konnte sie nicht zurück, denn dann hätte sie an Cleybournes Tür vorbeigemusst. So rannte sie stattdessen zu der schmalen Hintertreppe, die in das nächste Stockwerk führte, wo die Kinderzimmer lagen.
„Jessica!" rief Richard und wollte ihr nacheilen. Doch dann wandte er sich noch einmal an Leona. „Ich will, dass Sie und Ihr Mann verschwinden!" schrie er wütend. „Und zwar gleich morgen. Gehen Sie jetzt endlich in Ihr Zimmer."
Lady Vesey nickte ängstlich, denn seine Miene verhieß nichts Gutes. Hastig eilte sie davon, während der Duke, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Hintertreppe emporstürmte. Als er die Tür des Kinderzimmers öffnen wollte, stellte er fest, dass sie von innen verschlossen war. Ungeduldig rüttelte er an der Klinke. „Jessica, machen Sie doch auf! Ich muss mit Ihnen reden. Es war ganz anders, als es den Anschein hatte. Öffnen Sie endlich!"
„Gehen Sie. Ich habe ein Recht darauf, in Ruhe gelassen zu werden", ertönte Jessicas Stimme hinter der Tür.
„Lassen Sie mich doch erklären."
„Sie sind mir gegenüber zu keiner Erklärung verpflichtet. Was Sie tun oder lassen, ist ausschließlich Ihre eigene Angelegenheit."
Cleybourne wusste, dass Jessica Recht hatte. Er war tatsächlich nicht gezwungen, ihr irgendetwas zu erklären. Aber er ahnte, dass der Gedanke unerträglich für sie sein musste, er habe Lady Vesey heute in derselben Weise begehrt wie sie selbst in der vergangenen Nacht. Die Vorstellung, er sei ein lüsternes Mannsbild, das sich jede Nacht irgendein weibliches Wesen in sein Bett holte, war wohl mehr, als eine unerfahrene junge Frau wie sie aushalten konnte.
„Ich muss unbedingt mit Ihnen reden, und ich werde hier nicht weggehen, bevor Sie nicht die Tür geöffnet haben", drohte er aufgebracht.
„Dann werden Sie wohl die Nacht auf dem Flur verbringen müssen, was äußerst töricht von Ihnen wäre", erwiderte Jessica. „Ich wünsche Ihnen jedenfalls Gute Nacht."
Richard hörte noch, wie sie durch den Hauptraum ging und die Tür zu ihrem ehemaligen Schlafzimmer hinter sich schloss. Einen Augenblick lang starrte er noch auf die Klinke in seiner Hand. Dann wandte er sich mit einem mürrischen Laut um und stieg die Hintertreppe wieder hinab.
9. KAPITEL
Als Jessica am anderen Morgen in ihrem neuen Zimmer, zu dem sie sich Stunden später heimlich zurückgeschlichen hatte, erwachte, fiel in dicken Flocken Schnee vom Himmel. Der Garten unterhalb ihres Fensters war bereits über und über in Weiß gehüllt. Hastig schlüpfte sie in ihre Kleider. Während sie noch ihr Haar aufsteckte, kam Gabriela in freudiger Aufregung angelaufen.
„Ist das nicht ein wundervolles Wetter, Miss Jessica? Können wir nach dem Frühstück hinausgehen und im Schnee herumspazieren? Ich finde Schnee herrlich! Mögen Sie ihn auch?" Das Mädchen ging zum Fenster und blickte hinaus. „Alles sieht so hübsch aus draußen - weiß und ... und irgendwie märchenhaft und geheimnisvoll, nicht wahr?"
„Geheimnisvoll?" wiederholte Jessica und prüfte im Spiegel noch einmal den tadellosen Sitz des dicken Haarknotens im Nacken. „Wie kommst du darauf? Ich finde, es sieht jetzt alles sauber und unberührt aus."
„Ja, das schon. Aber geheimnisvoll wird es auch dadurch, dass alles zugedeckt ist.
Die Büsche, Bänke und Steinfiguren - all das sind nur noch weiße Klumpen, und niemand weiß mehr, was darunter steckt und wo man
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