Sturm ueber Cleybourne Castle
den Fuß noch sicher hinsetzen kann. Man glaubt, über einen festen Boden zu gehen, aber plötzlich ist da ein Loch, das man nicht sehen konnte, und man versinkt darin. Oder es ist ein kleiner Teich, in den man einbricht."
„Was hast du für schauerliche Vorstellungen! Ich glaube, du liest zu viele Bücher mit bösen Grafen und wahnsinnigen Mönchen."
Gabriela kicherte. „Nein, nein, dort gibt es niemals Schnee, immer nur Sturm und Regen. Oder sie leben auf einer Klippe am Meer, und die Wellen schlagen auf die Felsen."
„Das stimmt. Und es ist immer stockdunkle Nacht."
„Und die Kerzen flackern unheimlich", fügte Gaby übermütig hinzu.
In diesem Augenblick wurde an die Tür geklopft. Die beiden fuhren zusammen, sahen sich viel sagend an und brachen in ausgelassenes Gelächter aus, bis Jessica „Nur herein!" rief.
Lächelnd trat Lady Westhampton über die Schwelle. „Heute scheint jedermann im Hause gute Laune zu haben."
„Das liegt am Schnee", erklärte Gabriela. „Da möchte ich immer einen Freudentanz aufführen."
„Ja, es sieht in der Tat reizend aus. Aber für mich ist dieses Wetter nicht so erfreulich", erwiderte Rachel. „Ich komme nämlich, um Lebewohl zu sagen.
Eigentlich wollte ich erst später am Tage aufbrechen. Doch nun muss ich mich leider beeilen."
„Oh nein, fahren Sie doch nicht weg!" rief Gaby enttäuscht. „Miss Jessica und ich wollen nachher einen Spaziergang durch den Schnee machen."
„Ja, Sie sollten wirklich lieber hier bleiben", empfahl nun auch Jessica besorgt. „Es ist nicht ratsam, über verschneite Straßen zu fahren."
„Lord Westhampton erwartet mich aber daheim zu den Vorbereitungen für das Weihnachtsfest", sagte Rachel mit einem leisen Bedauern in der Stimme. „Ich komme ohnehin schon verspätet, da ich den Umweg gemacht habe, um den Duke zu besuchen. Und vielleicht schneit es in den nächsten Tagen noch mehr, sodass ich überhaupt nicht mehr reisen kann. Dann wäre Lord Westhampton sehr betrübt." Jessica nickte. „Das verstehe ich natürlich. Aber es tut uns sehr Leid, dass Sie so rasch aufbrechen müssen. Oh, Ihre Kleider! Sie müssen doch noch eingepackt werden. Ich hole sie sofort."
„ Ach, machen Sie sich deswegen keine Mühe. Ich habe zu Hause genügend andere Kleider, und meine Koffer sind bereits in der Kutsche verstaut. Ich nehme sie bei meinem nächsten Besuch in Cleybourne Castle wieder mit."
Der Gedanke, Lady Westhamptons Kleider auf eine unbestimmte Zeit zu behalten, war Jessica unangenehm, sodass sie sofort widersprechen wollte. Aber Rachel schob alle Bedenken mit einem Lächeln beiseite.
„Im Übrigen habe ich auch noch eine gute Nachricht für Sie. Ich bin nämlich nicht die Einzige, die heute abreist", fügte sie dann lachend hinzu. „Ich habe eben im Vorbeigehen gehört, dass auch die Kutsche von Lord und Lady Vesey vorgefahren wird."
„Wirklich?" Erfreut klatschte Gabriela in die Hände.
„Ja, Richard hat darauf bestanden. Ich glaube, es hat gestern Abend noch eine Auseinandersetzung mit den Veseys gegeben. Er ist jedenfalls heute Morgen ungenießbar."
Jessica lag eine boshafte Bemerkung auf der Zunge. Da sie aber wusste, dass Lady Westhampton ihrem Schwager sehr zugetan war, verkniff sie sich eine Antwort.
Zusammen mit Gaby begleitete sie Rachel in die Eingangshalle, in der Cleybourne bereits darauf wartete, seiner Schwägerin in den Wagen zu helfen. Er warf Jessica einen fragenden Blick zu, den sie mit kühler Miene erwiderte. Verstimmt wandte er sich zu Rachel.
„Deine Koffer sind sicher untergebracht. Willst du wirklich bei diesem Schneesturm abreisen?"
„Man kann es doch wohl kaum einen Schneesturm nennen", entgegnete Rachel lächelnd. „Es schneit einfach nur."
„Aber Baxter hat mir gesagt, der Gärtner glaubt, dass das Wetter im Laufe der nächsten Stunden noch schlechter werden wird."
„Deshalb muss ich ja auch sofort abfahren, Richard. Also dann, auf Wiedersehen, mein Lieber. Und gib auf dich Acht."
Lady Westhampton stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihrem Schwager die Wange. Dann wandte sie sich an Jessica und Gabriela, die sich ein wenig abseits gehalten hatten. „ Versprecht ihr beide mir, dass ihr auf ihn aufpassen werdet!"
Sie unterstrich ihre Worte mit einem bedeutsamen Blick. Jessica begriff, dass sie den Duke unter allen Umständen davon abhalten sollte, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen, und nickte nachdrücklich. Rachel schüttelte ihr lange die Hand zum Abschied. Gaby aber
Weitere Kostenlose Bücher