Sturm ueber Cleybourne Castle
Überlegungen konnte sie jedoch ihre Aufregung und den Hauch von Hoffnung in ihrem Herzen nicht bezwingen, als sie die Treppe zum Erdgeschoss hinabstieg. Die Tür von Cleybournes Arbeitszimmer war geschlossen, und so klopfte sie leise an und wartete auf den Ruf zum Eintreten.
Sie fand den Duke aufrecht hinter dem Schreibtisch stehend, so als hätte er sich eben erst von seinem Stuhl erhoben. Seine Miene war unbeweglich und ausdruckslos und ließ Jessicas frohe Erwartung rasch dahinsterben.
Sie zwang sich zur Ruhe, bevor sie an den Schreibtisch trat und zu ihm aufblickte. „Ah, Miss Maitland! Ich ... ich habe Sie rufen lassen, weil ich den Eindruck habe, dass ich ..." Cleybourne wandte sich ein wenig zur Seite und starrte auf die Bücher in dem Regal, das bis zur Decke reichte. „Ich muss Sie um Verzeihung für mein Benehmen in der vergangenen Nacht bitten. Es war unentschuldbar." Unvermittelt setzte er sich in Bewegung, als könne er das Stillstehen nicht länger ertragen, und ging im Zimmer hin und her, während er weitersprach. „Es war ein schwerer Fehler von mir. Sie sind meine Angestellte. Sie leben in meinem Haus und unter meinem Schutz. Sie können sich gar nicht vorstellen, was ich mir für Vorwürfe mache, weil ich ... weil ich die Situation ausgenutzt habe."
In Jessicas Adern schien das Blut zu Eis zu erstarren. Sie wusste selbst nicht mehr, was sie insgeheim gehofft hatte. Aber sie war auch nicht mehr naiv genug gewesen, um zu erwarten, dass der Duke ihr seine unsterbliche Liebe erklären würde. Dessen ungeachtet versetzte es ihr jedoch einen Schlag, ihn so kalt und unbeteiligt reden zu hören. Sicherlich hätte sich jeder Gentleman dafür entschuldigt, wenn er sie so gepackt und geküsst hätte - aber das eben war viel mehr als eine einfache Entschuldigung gewesen. Cleybourne bedauerte offensichtlich nicht nur, sich so unritterlich benommen zu haben. Nein, er bereute die Gefühle und das Verlangen, die ihn dazu getrieben hatten. Er verabscheute seine Begehrlichkeit und hasste geradezu die Tatsache, dass er danach gefiebert hatte, sie zu besitzen.
„Ich versichere Ihnen, dass es nicht noch einmal vorkommen wird", fuhr Cleybourne in sachlichem Ton fort.
Jessica faltete die Hände. Ihre Finger waren eiskalt, und ihr Kopf war leer. Sie wusste nicht mehr, was sie sagen sollte. Erschöpft ließ sie die Lider sinken, denn sie konnte es nicht mehr länger mit ansehen, wie er standhaft ihren Blicken auswich. Offensichtlich bereute er den Zwischenfall der vergangenen Nacht zutiefst. Vielleicht verabscheut er mich auch, dachte sie verzweifelt, weil ich seine Annäherung so dirnenhaft beantwortet habe. Hatte sie sich nicht selbst erst vor wenigen Minuten vorgehalten, dass ihr Verhalten nicht sehr damenhaft gewesen war? Wäre es dann ein Wunder, wenn er sie nicht mehr als anständige Frau ansah?
Sie erinnerte sich daran, wie er sie seine „Angestellte" genannt hatte, und das schmerzte sie ebenfalls. Ganz offenkundig betrachtete er sie demzufolge nicht als gleichwertig, sondern als eine Person, die für ihn arbeitete. Natürlich stand sie dem Rang nach unter ihm, und es war völlig verkehrt gewesen, sich von Lady Westhamptons Freundlichkeit zu dem Gefühl verleiten zu lassen, ihnen ebenbürtig zu sein.
Das war sie nicht und konnte es auch nie sein. Und ihr Traum, Cleybournes Küsse könnten irgendein Gewicht haben, war kindisch und einfältig gewesen. Er liebte doch nach wie vor nur seine tote Frau, und selbst wenn dem nicht so wäre, gab es keine Hoffnung auf eine Beziehung zu ihm -zumindest auf keine ehrenwerte. Zwar stammte sie aus einer guten Familie, war aber dennoch nur eine Gouvernante, und es war kaum anzunehmen, dass je ein Duke Heiratsabsichten in Bezug auf eine Gouvernante hegen würde. Hinzu kam, dass ihr guter Name unwiderruflich befleckt worden war durch den Skandal um ihren Vater. Demzufolge konnte aus der Episode der vergangenen Nacht bestenfalls ein illegitimes Liebesverhältnis erwachsen. Aber das würde sie nicht ertragen. Und Cleybourne war wohl auch nicht der Mensch, der eine unschuldige junge Frau zu seiner Geliebten machte. Dazu war er nun doch zu sehr Gentleman.
Wenn sie das alles berücksichtigte, so musste sie dem Duke geradezu dankbar dafür sein, dass er ihre Willensschwäche und ihre laxe Moral nicht weiterhin ausnutzte!
Während Jessica diese Gedanken durch den Kopf gingen, hatte sich ein drückendes Schweigen über das Zimmer gelegt. Ihr wurde bewusst, dass sie nun
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