Sturm ueber Cleybourne Castle
demzufolge nicht einen der besten Plätze einnehmen. Die Übrigen würde ich am Ende des Tisches platzieren. Wenn irgendeiner beleidigt sein sollte, ist das eben nicht' zu ändern."
„Oh ja, Miss Maitland. Ich danke Ihnen." Erfreut eilte Baxter davon.
Als Nächste erschien Miss Brown und berichtete von ihren Sorgen wegen der Verteilung der Schlafzimmer. Jessica versuchte, sie mit der Versicherung zu beruhigen, dass niemand eine eventuell unpassende Entscheidung von ihr dem Duke zur Last legen würde. Sie war sich da zwar nicht ganz sicher, aber nichtsdestoweniger davon überzeugt, dass es Cleybourne völlig gleichgültig wäre. Dann ließ Lady Westhampton durch einen Diener ausrichten, Gabriela möge mit ihr in ihrem Schlafzimmer zu Abend essen, da sie offensichtlich von der Annahme ausging, Jessica werde wieder mit den anderen speisen. Um der Köchin nicht zusätzliche Mühe zu machen, beschloss Jessica deshalb, in ihrem Zimmer zu warten, bis die Tafel aufgehoben wurde, und sich erst dann in der Küche etwas zu essen zu holen.
Doch kaum hatte sie sich hingesetzt und versucht, sich mit einem Buch die Zeit zu vertreiben, wurde kurz und laut angeklopft. Als sie in der Erwartung die Tür öffnete, Baxter wieder mit einer Frage der Etikette vorzufinden, stand zu ihrer Überraschung der Duke höchstpersönlich vor ihr.
„Euer Gnaden! Ich ..." Ratlos sah sie den unerwarteten Besucher an, denn sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
„Aus welchem Grund halten Sie sich in Ihrem Zimmer auf?" fragte Cleybourne ungehalten.
„Wo sollte ich denn sonst sein?"
„Unten im Speisesaal, wo alle zu Abend essen."
„Gouvernanten pflegen nicht mit der Familie am Tisch zu sitzen, insbesondere wenn Gäste da sind, Euer Gnaden."
„Es sind nicht meine Gäste", stellte der Duke sachlich fest. „Sie haben die Leute eingeladen und wollen nun auf einmal devot mir gegenüber sein. Wo ist denn die Miss Maitland, die die Führung des Haushaltes in ihre Hände genommen und meine Leute ausgeschickt hat, um Postkutschen zu retten?" „Was sollte ich Ihrer Meinung nach denn tun?" brauste Jessica auf. „Die Passagiere draußen im Schnee erfrieren lassen?"
„Natürlich nicht. Ich ... Aber diese Gäste sind eine ziemliche Plage. Einer blinzelt immer oder räuspert sich oder zupft sich am Ärmel. Und dieser Bursche, dieser Cobb, ist auch ein merkwürdiger Kauz. Sie können doch nicht erwarten, dass ich allein mit dieser Schar Einfaltspinsel fertig werde."
„Aber Sie sind doch nicht allein."
„Das ist ja gerade das Problem. Es war schon schlimm genug mit Lord und Lady Vesey. Aber jetzt piepst noch dauernd so ein Spatz von einem Weibsbild herum, und Lord Kestwick leiert irgendetwas über Stiefelwichse herunter, und sein Begleiter -wie war doch gleich sein Name? - ist ein kompletter Dummkopf." Missmutig verzog Cleybourne die Lippen. „Also, was ist?"
„Was denn?"
„Sie ziehen sich jetzt an und kommen herunter zum Abendessen."
„Das ist doch nicht Ihr Ernst?"
„Mein völliger Ernst."
Voller Entsetzen vergegenwärtigte sich Jessica, dass sie mit Darius an einem Tisch sitzen müsste. „Aber ich ... ich ... Es wird eine ganze Weile dauern."
„Dann wird eben mit dem Essen so lange gewartet."
„Aber Sie brauchen mich nicht. Ich wüsste gar nicht, wie ich die Situation weniger ärgerlich für Sie machen sollte."
Einen Augenblick lang starrte der Duke sie verblüfft an. Dann sagte er: „Das mag schon sein. Aber es würde meine Laune unendlich verbessern, wenn Sie auch darunter leiden müssten. Also ziehen Sie sich an. Ich werde draußen auf Sie warten."
„Sie müssen nicht auf mich warten."
„Ich fürchte, dass es doch nötig ist, wenn ich sichergehen will, dass Sie herunterkommen."
Jessica schnitt hinter seinem Rücken eine Grimasse und schloss energisch die Tür. Mit einem leisen Seufzen ging sie zum Schrank und holte eines der Kleider heraus, die Lady Westhampton ihr geliehen hatte. Sie entschied sich für das braune, leicht rötlich schimmernde Satinkleid, das wunderbar zu ihrer Haarfarbe passte. Ihre Frisur, einen schweren, im Nacken aufgesteckten Knoten, ließ sie unverändert, denn sie hatte weder die Zeit noch das Geschick für die kunstvollen Locken, die ihr die Zofe vorgestern gemacht hatte.
Als sie aus der Tür trat, sprang Cleybourne überrascht von der Polsterbank auf, und in seinen Augen erschien ein Leuchten wie ein plötzlicher Lichtstrahl, der Jessica das Blut in den Adern erhitzte. Doch sie mahnte sich,
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