Sturm ueber Cleybourne Castle
dass sie für ihn nichts anderes als eine Angestellte war, dass er seine Küsse in jener Nacht bitter bereut und sich bereits mit der sittenlosen Leona getröstet hatte.
Cleybourne nahm ihren Arm und führte sie die Treppe hinab zum Speisesaal, wo die Gäste bereits versammelt waren. Der wütende Blick, den Lady Vesey ihr beim Eintreten zuwarf, war ihr Entschädigung genug für das Ungemach, einen Abend mit Darius Talbot verbringen zu müssen.
Es wurde in der Tat eine merkwürdige Mahlzeit. Mr. Goodrich konnte, wie der Duke schon erwähnt hatte, keinen Augenblick still sitzen. Ängstlich musterte er die Fülle der silbernen Bestecke, die an jedem Teller aufgereiht waren, und blickte ständig verstohlen um sich, damit ihm nicht entging, welches Teil davon gerade benutzt werden musste. Ihm gegenüber saß ein Mann, den Jessica noch nicht gesehen hatte. Es musste jener Mr. Cobb sein, der später allein eingetroffen war. Er war ein kleiner, gedrungener Bursche mit breiten Schultern und kräftigen Armen. Auf seiner linken Wange prangte eine große Narbe, die ihm ein dauerndes, ein wenig schiefes Lächeln verlieh. Seine Augen waren so kalt und ausdruckslos wie Stein. Er aß mit einer methodischen Langsamkeit und betrachtete dabei die übrigen Gäste am Tisch. Man konnte ihn tatsächlich als einen merkwürdigen Kauz bezeichnen, wie Cleybourne es getan hatte.
Leona trug wie üblich das knappste Kleid, das sie hatte finden können. Die meisten Männer blickten immer wieder neugierig zu ihrem tiefen Ausschnitt, möglicherweise in der Hoffnung, dass der winzige Streifen, der ihre Brüste bedeckte, auch noch verrutschen würde. Im Gegensatz zu ihnen starrte das alte Jüngferlein, Miss Pargety, Lady "Vesey mit unverhülltem Abscheu an. Mrs. Woods hingegen schien weder von Leonas Aufzug noch von ihrem Benehmen sonderlich beeindruckt zu sein. Sie speiste mit ruhiger Würde, betrachtete alles interessiert, sprach aber nur wenig. Nur ein oder zwei Mal erkannte Jessica einen Zug von Verachtung in ihrer Miene, wenn ihr Blick Lady Vesey streifte.
Für den heutigen Abend schien Leona auf den Duke als Zielscheibe ihrer Koketterien zu verzichten. Schließlich waren ja genug andere Männer anwesend, an denen sie ihre Künste ausprobieren konnte. So flirtete sie denn auf Teufel komm raus mit jedem von ihnen, selbst mit Reverend Radfield. Ihr kehliges Lachen hatte etwas ungemein Vertrauliches und vermittelte jedem einzelnen den Eindruck, als sei es ausschließlich für ihn bestimmt.
Außer dem Duke schien nur noch ein Mann ihrem Charme nicht zu erliegen: Darius Talbot. Er wandte den ganzen Abend seinen Blick nicht von Jessica, während sie es hartnäckig vermied, ihn anzusehen. Doch aus den Augenwinkeln heraus konnte sie beobachten, wie er sie die ganze Zeit anschaute.
Jessica bemühte sich, eine Unterhaltung mit Mrs. Woods und Miss Pargety in Gang zu halten, da Leona die Aufmerksamkeit aller Männer für sich beanspruchte. Mrs. Woods antwortete höflich, wenn sie direkt angeredet wurde, trug aber selbst nichts zu dem Tischgespräch bei. Angesichts ihres leichten fremdländischen Akzentes, ihres schwarzen Haares und ihrer oliv getönten Haut, fragte Jessica sich, ob die Dame trotz ihres englischen Namens vielleicht italienischer Abstammung sein könnte.
Miss Pargety hingegen war sehr redselig. Nahezu pausenlos beklagte sie sich über den Schnee, die Kälte, die Postkutsche und die Verzögerung ihrer Reise und brachte immer wieder die Sorge um die Weihnachtsvorbereitungen ihrer Schwester ohne ihre kundige Unterstützung zum Ausdruck. Nach und nach kam Jessica zu der Überzeugung, dass die Schwester wahrscheinlich sogar froh über das verspätete Eintreffen von Miss Pargety sein würde.
Als die Tafel endlich aufgehoben wurde, ergriff Jessica die Gelegenheit, sich zu entschuldigen, denn sie hatte keinerlei Lust, mit den Damen noch im Wohnzimmer herumzusitzen, während die Männer rauchten und Whisky tranken. Lächelnd grüßte sie in die Runde und schlüpfte dann hastig zur Tür hinaus. Doch als sie die Treppe fast erreicht hatte, ertönte hinter ihr ein Ruf.
„Jessica!"
Seufzend blieb sie stehen, denn sie hatte die Stimme sofort erkannt. Natürlich hätte sie auch davonlaufen können. Aber so hatte sie die unerfreuliche Begegnung dann "wenigstens hinter sich, und da alle anderen Gäste in den Wohnräumen zurückgeblieben waren, war die Gelegenheit dafür sehr günstig.
„Ja, Darius?"
„Oh bitte ... ich möchte mit dir sprechen."
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