Sturm über Freistatt
Geräusch: ein schwaches Rauschen, ein Rascheln, ein Knarren und ein Keckern in der Ferne – ein Geräusch wie die Flügel und das Geschrei von Fledermäusen zu Tausenden, zu Millionen, eine finstere Schar, die in der Luft hing und blutgierig harrte.
Statt ihn noch mehr zu erschrecken, beruhigte dieses Geräusch Harran jedoch, denn er erkannte, was es bedeutete: Der Zauber wirkte! Die Schatten namenloser Toten waren hierhergekommen, jener, die so lange schon tot waren, daß sie mehr denn alles andere wahrhaftig verloren waren. Ihr Gedächtnis war leer, sie wußten vom Leben nicht mehr als ein Säugling, sie erinnerten sich nur noch an Wärme, Pulsschlag, Blut. Harran schwitzte, als er nach der Weinflasche griff und zum Rand des Kreises schritt. Am nördlichsten Punkt des Musters nahm er Mrigas Lieblingsmesser und ritzte den linken Handballen auf, nicht tief, aber lang zur bestmöglichen Blutung. Es schwächte ihn, sich selbst zu schneiden, seine Knie wurden weich, und er zitterte. Aber er durfte keine Zeit vergeuden. An diesem nördlichsten Punkt und danach an allen anderen ließ er Blut auf die Weizenkörner tropfen, dann goß er Wein darüber und zog sich schließlich zum Mittelpunkt des Kreises zurück. Nunmehr rief er die Worte, die die Schatten den Rand des Kreises übertreten, doch nicht weiter vordringen ließen.
In dichten Scharen drängten sie sich um das Blut. Lider, die er nicht sehen konnte, preßten sich vor Genuß zusammen, Freudenslaute vertrieben die Stille. Sie tranken sich satt, ganz langsam – winzige Fledermausschlücke waren alles, was sie durch ihre ausgedörrten Seelenmünder zu sich zu nehmen vermochten. Zufrieden brabbelnd hingen sie noch eine Weile herum, vergaßen, weshalb sie gekommen waren, und schwanden schließlich. Sie taten Harran ein bißchen leid – diese armen zu einer dumpfen Ewigkeit vagen Hungers verdammten Toten –, aber keineswegs tat ihm leid, daß sie wieder fort waren. Sie würden den Zauber nicht mehr stören, und er konnte nun ernsthaft weitermachen.
Er hielt gerade lange genug inne, sich den kalten Schweiß aus den Augen zu wischen, dann legte er die Schriftrolle zur Seite, nahm die Alraune aus der Tasche und löste ihre Bande. Nunmehr legte er sie behutsam in die Knochenhand, und zwar so, daß der »Kopf« auf den Fingern ruhte. Wieder machte er eine Pause. Die nächste Aufgabe war schwierig, und er wünschte sich flüchtig, er hätte drei Hände. Doch es gab eine Möglichkeit, es zu schaffen. Er bückte sich und hielt sowohl Knochenhand wie Alraune mit der Stiefelspitze auf dem Boden fest, dann zog er mit der Linken die versilberte Nadel aus dem Rumpf der Alraune, mit der anderen quetschte er sein Blut auf die winzige Stichwunde in der Alraunwurzel.
Sogleich begann die Alraune zu glühen … schwach zunächst, doch schließlich immer stärker. Harran sprang rasch auf und rollte die Schrift zum letzten Teil des Zauberspruchs auf. Er war in normaler Sprache abgefaßt und so am leichtesten zu lesen, doch Harrans Herz hämmerte stärker denn je. »Bei meinem hier vergossenen Blut; bei den furchtbaren Zeichen tiefer Nacht und den mächtigen, hier dargestellten Symbolen; bei den Seelen der Toten und jenen der noch Ungeborenen …«
Es wurde warm. Im Lesen wagte Harran einen raschen Blick auf das wachsende Licht zu seinen Füßen. Die Alraune glühte in einem Farbton, den ein Sterblicher höchstens im Traum oder nach seinem Tod zu sehen vermochte. Diesen Ton ›rot‹ zu nennen, wäre eine Beleidigung des wahren Rotes gewesen. Hitze war in der Farbe, doch von einer Art, die nichts mit Flammen zu tun hatte. Dies war der ursprüngliche Ton der Leidenschaft des Herzens, des brennenden Blutes in einem Lebewesen, das von gewaltiger Wut oder ungeheurem Verlangen bewegt wird. Er war dunkel, doch haftete ihm nichts eigentlich Böses an, und er blendete. In diesem Licht vermochte Harran kaum die Schriftrolle zu sehen, von der er laut las. Die Steinwände ringsum schienen so unwirklich wie in einem Traum. Nur das Licht war wirklich und das Bild, das sich in seinem Kopf regte. Sein Herzenswunsch, jene, selbst deren Namen er sich so viele Jahre versagt hatte, und die nun so nahe war, diese so sehr ersehnte, so unendlich geliebte, weise und leidenschaftliche und schöne …
»…Bei all diesen Zeichen und Banden, vor allem aber bei deinem eigenen Namen, o Lady Siveni, rufe und beschwöre ich dich! Erscheine hier vor mir …« … in schöner
Gestalt und auf eine Weise, die mir
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