Sturm über Freistatt
sein Vorhaben. Wenn ich das Gefühl habe, daß ich verfolgt werde, sollte ich mit dem Zauber beginnen und gleich den äußeren Kreis ziehen. Sobald er geschlossen ist, kann niemand mehr hindurch. Er stellte Kästchen und Flasche ab und kramte nach dem Brocken Erdpech. Sorgfältig zog er den Kreis um die große offene Fläche vor den Säulen, die alle Spuren von Vorschlaghämmern aufwiesen. Der Versuch, sie zu zerstören, war natürlich vergebens geblieben – man konnte schließlich erwarten, daß ein Tempel, von den Priestern der Göttin erbaut, die die Baukunst erfunden hatte, von Dauer sein würde –, aber sein Herz verkrampfte sich, als er diese Narben sah. Rund um den Portikus, so, wie er es gelernt hatte – genau vierhundertundachtzig Schritte – plagte sich Harran vornüber gebeugt mit schmerzendem Rücken. Immer wieder verzogen sich bei seinem Näherkommen huschend dunkle Schatten. Er widmete ihnen keinen Blick. Als er zurück in Treppenmitte war und den Knoten zeichnete, der den Kreis verschloß, fühlte sein Rücken sich wie ein Eisenbarren an, auf den Schmiede hämmerten. Aber er hatte jetzt ein größeres Gefühl von Sicherheit. Er hob sein Kästchen wieder auf und trat ins Innere.
Die große Tür innerhalb des Portikus war schon lange von innen verriegelt und zugesperrt. Doch dieser Riegel hielt keinen auf, der Siveni über das Noviziat hinaus gedient hatte. Harran fuhr die Raben-und-Olivenbaum-Schnitzerei knapp unter Augenhöhe nach, bis er den vierten Raben nach dem zweiten Baum, der keine Früchte trug, gefunden hatte, und drückte auf das Auge dieses Vogels. Der Kopf des Raben kippte nach innen und ermöglichte es so, den kleinen Hebel zu erreichen, der die Priestertür öffnete. Er ließ sich zwar schwer bewegen, weil er lange nicht mehr benutzt worden war, aber schließlich schwang die Tür gerade so weit auf, daß Harran hindurchschlüpfen konnte. Behutsam schloß er sie hinter sich wieder.
Harran hob die Blenden der mitgebrachten Laterne und leuchtete um sich. Und da begann er wirklich zu weinen. Das Standbild war verschwunden, vor dem er sich so viele Male am Tag voll Zuneigung verbeugt hatte – nachdem ihm gelungen war, die unsterbliche Schönheit hinter dem steinernen Idol zu sehen; Sivenis große Statue, die sie als Verteidigerin darstellte, den Helm auf dem Kopf, in der einen Hand ihren Speer, der ganze Bataillone zu vernichten vermochte, und auf der anderen ihren Raben; dieses große Kunstwerk, an dem Rahen, der begnadete Bildhauer, fünf Jahre gearbeitet hatte, um es aus Marmor zu hauen und mit Gold und Elfenbein zu verzieren – und nachdem er damit fertig war, hatte er seinen Meißel niedergelegt und gesagt, er wisse, wann er seines Lebens Meisterwerk geschaffen habe, und er würde nie wieder Stein hauen … Dieses Kunstwerk war nicht mehr. Harran hätte es verstehen können, wenn Plünderer das Gold und Elfenbein entfernt und die Edelsteine aus dem mächtigen Schild gebrochen hätten. Genau wie jeder andere Freistätter wußte er, daß nichts sicher war, nicht einmal etwas Göttliches. Doch nie hätte er gedacht, daß ihm diese Tatsache so brutal vor Augen treten könnte. Der Sockel, auf dem die Statue gestanden hatte, war leer, wenn man von ein paar kleineren Brocken und Splittern des zerschmetterten Marmors absah … doch selbst solche Bruchstücke waren noch beeindruckend. Da lag ein pyramidenförmiges Stück, ein Eckteil des Sockels; dort eine lange, schmale Scherbe, an einem Ende glatt und leicht gerillt, am andern scharf abgebrochen – eine Feder von einem ausgestreckten Rabenflügel … Harran tobte innerlich vor Wut. Wo hatten sie … Warum … Eine ganze Statue, eine Statue von dreißig Fuß! Gestohlen, vernichtet, verloren.
Er wischte die Tränen aus den Augen, setzte die Laterne ab, warf den Umhang auf den staubigen Marmor und hob sein Kästchen auf. Einen weiteren Kreis mußte er für den eigentlichen Zauber ziehen. Falls sein Rücken noch schmerzte, spürte er es zumindest jetzt nicht. Rund um den leeren Sockel verstrich er das Erdpech. Diesmal zählte er die Schritte nicht. Er mußte gegen die bittere Wut ankämpfen, zumindest so weit, daß ihm die Worte nicht entfielen, die er immer wieder zu denken hatte, damit er die bald befreiten Kräfte innerhalb des Kreises festhalten konnte. Es war wahrhaftig nicht leicht, sowohl gegen seine Wut anzukommen, wie auch gegen die entstehende Macht des Kreiszaubers. Als er endlich auch diesen zweiten Kreis geschlossen und die
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