Sturm über Freistatt
Tod nicht wert. Nicht dieser Haß … nicht Sivenis.
»Dann verkriech dich in deinem Loch, alter Gott!« sagte Siveni bitter. »Es ist keine Ehre, auf diese Weise zu siegen, aber um des Sieges willen kann ich auf Ehre verzichten. Dein Tempel zuerst, dann deine geliebten Anhänger.«
Sie hob den Speer, und Blitze zuckten um seine Spitze.
»Nein!« hielt jemand hinter ihr sie zurück.
Erstaunt drehte sie sich um und starrte ihn an. Harran erwiderte ihren Blick, so fest er konnte. Er war ebenso erstaunt wie sie, daß er gesprochen hatte und daß diese wütenden grauen Augen ihn nicht an Ort und Stelle vernichteten. Weshalb starrt sie so? fragte er sich und ahnte die Antwort – während er sich gleichzeitig weigerte, daran zu denken. Je schwächer die Erinnerung an seine Fastgöttlichkeit, die er mit sich ins Leben oder in den Tod nahm, desto besser.
»Göttin«, sagte er, »du bist meine Göttin, aber ich warne dich, wenn du gegen die Menschen von Freistatt vorgehst, halte ich dich auf!«
»Womit?« brüllte sie wütend und schwang den Speer nach ihm. Harran hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Gegen den ersten Schlag hob er den verstümmelten Arm, und die Blitze wichen ihm knisternd aus und drangen in den Fußboden. Doch der zweite und dritte folgten unmittelbar, und dann prasselte ein wahrer Hagel von Schlägen auf ihn ein und durchbrach seine schwache Verteidigung. Und danach kam der Blitz, der ihn auf die Straße schmetterte – und so sehr glich er dem Tod, daß man ihn damit verwechseln konnte. Harrans letzter Gedanke war, als er versengt und geblendet zu Boden ging, welch ein Anblick sie mit dem Schwert böte. Dann verließ ihn das Bewußtsein, und seine Seele entfloh.
Irgendwo in Freistatt heulte ein Hund.
Und eine merkwürdige dunkle Gestalt, die durch die Schatten hinter dem Mann und der Göttin geschlichen war, sprang kreischend aus diesen Schatten Siveni an.
Es war der Krach auf der Straße, der Harran schließlich zur Besinnung brachte. Ein höllischer Lärm, laut genug, die Toten zu wecken, zu denen er zu gehören glaubte. Steine spalteten sich, Blitze zerrissen die Luft, wütende Schreie – und eine heisere Stimme, die er kannte. In diesem Augenblick, ehe es ihm gelang, die Lider zu heben, wurde ihm klar, wer ihm von der Stiefsohnkaserne aus hierher gefolgt, wer die dunkle Gestalt gewesen war, die, als er den Kreis um Sivenis Tempel zog, durch den Zauber in ihm festgehalten worden war – wodurch sich seine Wirkung auch auf sie erstreckt hatte.
Harran plagte sich hoch, um diese Gestalt zu sehen, deren Bild ihn für alle Zeit weibliche Gesellschaft abweisen lassen und dazu bewegen würde, überfüllte Räumlichkeiten zu meiden, wann immer es sich vor sein inneres Auge schob.
Da war die Göttin in ihrer leuchtenden Gewandung – doch diese Kleider waren nun schmutzig von ihren Stürzen auf die Straße; und da waren vier Hände um den Schaft, die um den Speer rangen. Noch ehe Harran richtig stand, gelang es der Gestalt, die mit Siveni rang, ihr den Speer zu entreißen. Sie schleuderte ihn nun die Tempelallee entlang und Blitze zuckten von ihm. Und dann warf sich Migra erneut auf Siveni, ganz dünne Arme und Beine wie immer – doch zudem mit einer furchterregenden Flinkheit und Anmut der Bewegung. Überlegung, dachte Harran fasziniert und verwirrt zugleich. Sie weiß genau, was sie tut! Und er lächelte – er sah noch einen Aspekt des Zaubers, den er hätte ahnen können, wenn er begabt und nicht nur tüchtig gewesen wäre. Der Zauber brachte unfehlbar zurück, was verloren war – selbst verlorenen Verstand.
Göttin und Sterbliche rollten ineinander verschlungen auf dem Boden, fast zu einem Körper verschmolzen. Beide leuchteten, brannten lichtlos vor Wut und Göttlichkeit. Die Göttin hatte vielleicht etwas mehr Erfahrung im Kampf, aber Mriga besaß nicht nur die Kraft der Göttlichkeit, sondern auch die des Wahnsinns. Und es mochte noch weitere Vorteile eines Lebens im Irrsinn geben. Mrigas Aufnahme der Göttlichkeit würde nicht durch Vorstellungen über Götter gehemmt sein oder über Sterbliche, die keine Götter waren. Sie nahm an Kraft, was zu ihr kam, und bediente sich ihrer ohne Überlegung. Sie setzte sie jetzt ein und hatte Siveni unter sich. Mitten im Kampf war ihr Gesicht in seine Richtung gewandt, und sie sah, daß Harran sie anblickte. Dieser Blick traf ihn wahrhaftig wie ein Blitz, aber den Schmerz, den er ihm einbrachte, hätte er gegen nichts getauscht. Mriga sah ihn. Und
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