Sturm über Freistatt
deutete auf den gezeichneten Kopf.
»Ja, ja, Quälgeist, hab Geduld.« Lalo griff nach seinem Messer, um die schwarze Kreide zu spitzen. Alfi zappelte, da rutschte Lalos Hand aus, und das Messer schnitt in seinen Daumen. Mit einer Verwünschung ließ er es fallen und hob den Finger an den Mund, um das Blut durch Saugen zu stillen, nicht ohne seinen Sohn anzufunkeln.
»Papa, mach’s jetzt – mach den Trick und laß sie wegfliegen!« bettelte Alfi, ohne zu bemerken, was er angerichtet hatte.
Lalo unterdrückte den Wunsch, das Kind durch die Stube zu schleudern, und fügte der gemalten Fliege Fühler und Facettenaugen hinzu.
Es war nicht Alfis Schuld. Er hätte sich nie auf dieses Spiel einlassen dürfen.
Er verzog das Gesicht, hob das Blatt Papier, schloß flüchtig die Augen, konzentrierte sich, dann öffnete er sie wieder und hauchte vorsichtig auf die feinen Flügel.
Alfi hielt sich jetzt ganz still, und seine Augen weiteten sich, als die gezeichnete Fliege erzitterte, die schimmernden Flügel ausbreitete und summend davonflog, um sich der farbenprächtigen Schar von Artgenossen anzuschließen, die über dem Abfalleimer an der Tür kreisten.
Einen gnädigen Augenblick war das Kind ruhig, aber Lalo, der auf die von ihm ins Leben gezeichneten Insekten blickte, erschauderte plötzlich. Er erinnerte sich (2) – ein scharlachroter Sikkintair, der über die Köpfe der Götter beim Festmahl flog; die übernatürliche Schönheit von Ils’ Antlitz; die Anmut Eshis, die Wein einschenkte … und neben ihm Thilli, oder war es Theba – ihr Götter, er konnte es doch nicht jetzt schon vergessen!
»Papa, mach mir nun eine, die grün und violett ist und …« Wieder zupfte eine kleine Hand an Lalos Ärmel.
»Nein!« Der Tisch kippte fast, als Lalo aufsprang. Farbige Kreide rollte klappernd auf den Boden.
»Aber Papa …«
»Ich habe nein gesagt! Kannst du denn nicht hören?« brüllte Lalo und schämte sich, als Alfi erschrocken Luft holte und sich ganz still verhielt. Lalo zwängte sich hinter dem Tisch hervor und ging zur Tür, doch abrupt blieb er stehen und zitterte. Er konnte jetzt nicht weggehen – er hatte Gilla versprochen –, er durfte das Kind nicht allein im Haus lassen! Verdammte Gilla! Lalo hob die Hände zu den Augen und versuchte, den Schmerz hinter ihnen wegzureiben.
Er hörte ein unterdrücktes Schluchzen hinter sich und dann leises Klicken, als Alfi die Kreidestifte in ihr Holzkästchen zurücklegte.
»Tut mir leid, Quälgeist«, entschuldigte sich Lalo. »Es ist nicht deine Schuld. Ich habe dich immer noch lieb – Papa ist bloß sehr müde.«
Nein, es war nicht Alfis Schuld. Lalo ging steif zum Fenster. Er öffnete die Holzläden und blickte über die dicht aneinanderanschließenden Dächer der Stadt. Man sollte meinen, ein Sterblicher, der mit den Göttern beim Festmahl geschwelgt hatte, müßte anders sein, vielleicht von einer Art Leuchten umgeben, das alle wahrnehmen konnten – vor allem wenn er ein Künstler war, der nicht nur die Seele seines Modells zu zeichnen, sondern auch Leben in seine Werke zu hauchen vermochte. Doch nichts hatte sich für ihn oder an ihm verändert. Gar nichts.
Er blickte auf seine Hände: breite Handflächen, ziemlich kurze und dicke Finger mit Farbe unter den Nägeln und in den Schwielen. Eine kurze Weile waren sie die Hände eines Gottes gewesen, doch jetzt war er hier und rings um ihn schien Freistatt noch rascher als bisher seinem Untergang entgegenzustreben. Und es gab nichts, was er dagegen tun konnte.
Er zuckte zusammen, als etwas an seinem Ohr vorbeisirrte. Er sah, wie die von ihm erschaffenen bunten Fliegen aus dem Fenster und hinunter zu dem größeren Abfallhaufen am schmalen Durchgang flogen. Einen Augenblick fragte er sich, ob sie sich etwa auch fortpflanzen konnten und ob irgend jemandem in Freistatt die bunten Insekten auffallen würden, die aus dem Abfall schlüpften. Da drehte sich der Wind, und übler Gestank schlug ihm entgegen.
Würgend schloß er die Läden, lehnte sich gegen sie und grub das Gesicht in die Hände. Im Reich der Götter hatte jede Brise einen anderen Wohlgeruch. Die Gewänder der Unsterblichen waren mit flüssigen Edelsteinen gefärbt und schillerten. Und er, Lalo, hatte dort weilen und genießen dürfen, und sein Pinsel hatte tausend überirdischen Wundern Leben verliehen.
Er zitterte vor Sehnsucht nach den samtigen Wiesen und dem Aquamarinhimmel. Tränen quollen durch seine geschlossene Lider, und seinen Ohren,
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