Sturm über Freistatt
paar andere geben. Gemeinsam werden wir gut zurechtkommen.«
Alle drei standen auf und halfen einander dabei. »Harran …«, sagte Siveni.
Er blickte auf ihr müdes Leuchten, und zum ersten Mal sah er sie, ohne daß ihm dabei seine eigenen Vorstellungen über sie im Weg waren. Sie konnte sich nicht entschuldigen, das lag ihr nicht. Sie stand bloß da wie ein liebenswerter Wildfang nach einer heftigen Balgerei. »Ist schon gut«, versicherte er ihr. »Geht heim.«
Sie lächelte. Ihr Lächeln war fast so lieb wie Mrigas.
»Das werden wir«, antwortete Mriga an ihrer Stelle. »Es gibt einen Ort, wo Götter sich erholen können. Dort werden wir sein. Aber eines bleibt noch zu tun.« Sie streckte die Hand aus und legte sie auf den mit Feuer versiegelten Stumpf. Dann beugte sie sich vor und drückte sanft die Lippen auf Harrans.
Irgendwann in der Ewigkeit, die folgte, schien ihm, als fehlte ihre Linke.
Als das Leuchten um ihn schwand, waren Mriga und Siveni fort. Er stand allein im nahenden Morgengrauen auf der Tempelallee und blickte auf die verbogenen Flügel einer Bronzetür, die mitten auf der Straße lagen. Und er fragte sich, ob es in ein paar Jahren vielleicht einen kleinen, neuen Tempel in Freistatt geben würde – einen, der für eine neue Angehörige des ilsiger Pantheons errichtet war: für eine irrsinnige, eine verstümmelte und verkrüppelte Göttin, die Messer liebte und der eine ganz besondere, verrückte Weisheit eigen war, die mit Liebe begann und endete. Eine Göttin, die im Augenblick erst zwei Anhänger hatte: ihren einsamen Priester und eine Hündin …
Staunen erfüllte Harran – da zuckte er bei einer unerwarteten Berührung zusammen. Seine Linke, die Hand, die er nicht gehabt hatte und jetzt hatte – eine Frauenhand, strich ohne sein Zutun über seine Wange.
Die Bezahlung erfolgt jetzt …
Harran verbeugte sich knapp vor Ils’ Tempel – und mit unwilligem Respekt vor Savankalas –, dann ging er heim.
Anderswo im nahenden Morgengrauen erregte ein leiser, krächzender Ruf vom Fensterbrett die Aufmerksamkeit einer schwarzgewandeten Frau in einem Gemach mit einer Fülle von Schätzen und kostbaren Seiden und Satins in allen Farben. Ischade trat ohne Hast ans Fenster und lächelte den silbrigen Raben dort an, der sie mit grauen Augen anblickte. Stumm nahm sie seine Botschaft entgegen, dann hob sie ihn auf den Arm und bot ihm einen Leckerbissen an.
Originaltitel: The Hand that Feeds You
Copyright: © 1984 by Diane Duane
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(1) Siehe Totenbeschwörung von C. J. Cherryh in Geschichten aus der Diebeswelt: Der Krieg der Diebe , Bastei-Lübbe 20107
Lalo
Ein Hauch Macht
Diana L. Paxton
»Eine rote, Papa – ich möchte jetzt eine rote Fliege.«
Lalo blickte hinunter auf seinen kleinen Sohn, seufzte und suchte eine rote Kreide aus dem Kästchen. Geschickt fuhr seine Hand über das Papier und malte einen Kopf, einen Körper, angewinkelte Beine und die Umrisse feiner Flügel. Dann legte er die rote Kreide zur Seite, griff nach einer goldgelben und füllte die Umrisse mit einem sanften Schimmer. Alfi hüpfte auf der Bank neben ihm und verfolgte die Handbewegungen seines Vaters.
»Ist sie fertig, Papa?« Das Kind kletterte auf den Tisch, um besser zu sehen, und Lalo brachte rasch das Papier in Sicherheit. Er wünschte, Gilla würde endlich heimkommen und ihm den Jungen abnehmen. Wo blieb sie bloß so lange? Besorgnis verkrampfte ihm den Magen. In dieser Zeit der Gewalttätigkeiten zwischen den beysibischen Eindringlingen und den einheimischen Faktionen, deren Zahl und Art sich laufend änderte, konnte sich selbst ein harmloser Einkaufsbummel als gefährlich erweisen. Ihr ältester Sohn, Wedemir, der gerade auf Urlaub von seiner Karawane zu Hause war, hatte sich erboten, sie zum Basar zu begleiten. Die Geduld der Beysiber war vorüber, jeder Tag brachte neue Gerüchte über Widerstand und blutige Vergeltung durch die Fischäugigen. Gilla und Wedemir müßten längst zurück sein …
Alfi zupfte an seinem Arm und riß Lalo aus seinen Gedanken zurück. Während er auf den blonden Lockenkopf hinunterblickte, dachte er, wie sehr sein Jüngster seinem Ältesten glich – beide waren blond und hartnäckig … Einen Augenblick sprang die Zeit zurück: Er war wieder ein junger Vater, und es war Wedemir, der sich an ihn schmiegte und bettelte, daß er ihm noch mehr zeichne.
Aber zwischen Lalos damaliger und jetziger Malerei war ein Unterschied.
»Papa wird die Fliege sehen können?« Alfi
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