Sturm über Freistatt
verschwitzten Kittels.
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie wahrheitsgetreu. Eine schimmernde, von ihr selbst herbeigerufene Schwärze hing über ihrem Gedächtnis. Die Angst blieb, ein Gefühl drohenden Verhängnisses, doch die Erinnerung an die Vision war verschwunden. Ebenfalls geblieben war Kinderweinen, das noch in ihrem Ohr nachzuhallen schien. »Die Kinder«, flüsterte sie.
Dubro vertraute seine Schmiede seinem neuen und sehr eifrigen Lehrling an und folgte Illyra durch den Basar zur Straße der Roten Laternen. Kinder waren hier eine unvermeidliche Nebenerscheinung, zwar endeten die meisten in der Gosse, aber einigen war doch eine gesunde, geborgene Kindheit in den Häusern beschieden. Myrtis, die Besitzerin des festungsgleichen Aphrodisiahauses, nahm sich sowohl der Mädchen wie der Knaben an. Als Ausgleich, daß sie sich um das Zwillingspärchen, Sohn und Tochter des Schmiedeehepaars, kümmerte, hatte sie einen Jungen zu Dubro in die Lehre gegeben.
Im gedämpften Nachmittagslicht war die Straße still und leer.
Illyra ließ Dubros Hand los und sagte sich, daß keine Gefahr bestand und die Schwärze über ihrem Gedächtnis ein Alptraum war, den sie fortschicken und vergessen konnte. Sie dachte sich nichts dabei, als die junge Frau auf sie zugerannt kam/bis sie vor ihnen auf die Knie sank.
»Shipri sei gedankt! Ihr seid schon hier! Er schlief mit den anderen …«
Die Hysterie der Frau weckte Illyras Besorgnis und ihr Gesicht aufs neue. Sie sah den Raum, wo Myrtis sich stirnrunzelnd über ein Bettchen beugte, wo die pausbackige Lillis sich in eine dunkle Ecke drückte und wo ihr eineinhalbjähriger Sohn zu weinen aufgehört hatte. Illyra folgte ihrer unfehlbaren Vision und rannte die Treppe und Korridore voraus.
»Ihr seid sehr rasch gekommen«, rief die nichtalternde Hausherrin und blickte leicht verwirrt von dem Bettchen hoch. »Ach so, ich verstehe, ihr habt das Zweite Gesicht, nicht wahr?« Die Verwirrung schwand. »Dann wißt Ihr soviel wie ich.« Sie machte für die Mutter Platz am Bettchen.
Der kleine Junge war plötzlich starr wie in lähmendem Fieber. Sein Atem kam als unregelmäßiges Keuchen, und jeder Atemzug ließ befürchten, daß kein weiterer folgen würde. Die Tränen trockneten bereits auf den schmutzigen Bäckchen.
Illyra strich behutsam darüber und erschauerte, als sie sah, daß dieser Schmutz erst durch die Tränen selbst gekommen war.
»Es ist keine Krankheit, von der ich je auch nur gehört habe!« sagte Myrtis. »Ich würde Lythande rufen, aber der Blau-Stern-Adept ist nicht zu erreichen. Wir könnten Stulwig oder einen anderen Heiler kommen lassen …«
»Nicht nötig«, erwiderte Illyra müde.
Sie sah jetzt alles doppelt: einmal mit den Augen, und einmal mit dem Gesicht. Das war seltsam, doch da das Gesicht damit verbunden war, konnte es sie nicht überraschen. Dubro schob den Vorhang zur Seite und trat neben sie. Sie blickte ihn an und sah sein ganzes Dasein: seine Kindheit, seine Reife, seinen Tod. Rasch senkte sie die Augen. Wieder machte sie die Vision zum Raben und schickte ihn fort. Die neue Schwärze in ihr war unbedeutend, verglichen mit der alten.
Da sie nur auf ihren jetzt seicht atmenden Sohn blickte, dessen Gestalt und Geschick sowohl vor den Augen ihres Körpers wie in dem Gesicht gleich waren, ließ man sie allein mit ihm. Sie saß auf dem Schaukelstuhl und spürte das Tageslicht durch das Fenster auf ihre Schultern fallen und dann die zunehmende Kühle der Abenddämmerung. Man brachte ihr Fleischbrühe, die sie unberührt ließ, und legte ihr ein dickeres Schultertuch um, als die kalte Nacht kam. Sie bewegte sich so wenig wie Arton in ihren Armen.
Ein frischer Wind trug das Wetter, einen fast stummen Sturm, durch Freistatt und schob die dünnen Wolken rasch am Mond vorbei.
Es war Mitternacht oder vielleicht ein wenig später, als sich ein vom Mond geworfener Schatten selbständig machte und sich auf dem Brett am Kopfende des Bettchens niederließ. Illyra beugte den Kopf und gestattete dem Raben die Rückkehr. Die Sicht verschwamm und bildete sich erneut, ohne Schwärze. Sie sah Zips nächtlichen Altar und das Zeichen eines Sturmgottes in den dunklen Tränen ihres Sohnes.
Sie wußte noch nicht, wie sie Arton retten konnte, obwohl Sicht und Gesicht jetzt gleich waren und ein wichtiger, silberumsäumter Pfad erkennbar wurde, wo zuvor nur Schwärze geherrscht hatte. Ihr Plan war noch ohne Form, als sie sich enger in das geborgte Schultertuch hüllte und
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