Sturm über Freistatt
zurückkehrte. Doch ehe sie es so oder so herausfinden konnte, erklangen schwere Schritte auf dem Korridor, die vor der Stube anhielten. An der Tür stand Molin Fackelhalter, der Hohepriester Vashankas.
»Illyra«, sagte er, ohne auf die anderen Anwesenden zu achten. Da sie nicht wußte, wie sie sich sonst verhalten sollte, ließ Illyra sich vor ihm auf die Knie fallen: Die Macht des Priesters war echt, auch wenn sein Gott vielleicht keine mehr besaß. »Wie geht es dem Kind?«
Sie schüttelte den Kopf und nahm Arton aus Dubros Armen. »Nicht besser. Er atmetet, doch das ist alles. Woher wißt Ihr davon. Warum seid Ihr hier?«
Molin lachte mit leisem Spott. »Ich hatte nicht erwartet, daß ich Antworten geben soll. Ich weiß es, weil ich dafür sorge, daß ich alles erfahre, was in Freistatt vorgeht, um so die Möglichkeit zu finden, das Richtige zu tun. Ihr habt Euch in die Garnison begeben. Ihr habt gesagt, Euer Sohn sei ›besessen‹. Ihr habt von Geistern gesprochen und vom Sturmgott, ohne jedoch Vashanka zu erwähnen. Ihr habt gewollt, daß Euer Bruder sich des Altars annimmt, und Ihr selbst wolltet Euch um alles andere kümmern.
Man sagt, Ihr habt das sagenhafte S’danzogesicht. Ich möchte gerne wissen, was genau Ihr gesehen habt.« Es schien den Priester nicht zu überraschen, daß Illyras einzige Erwiderung war, düster auf den Boden zu starren. »Nun, dann laßt mich Euch überzeugen.«
Er faßte sie sanft am Arm und führte sie zu einem kleinen Innenhof, wo die Krähe auf einem Baum saß. Dubro erhob sich, um ihnen zu folgen, doch zwei stumme, mit Speeren bewaffnete Tempeldiener sorgten dafür, daß er bei den Kindern blieb.
»Niemand hat Euch verraten, Illyra, noch wird jemand es. Walegrin sieht nicht das ganze Bild, wenn er mir die Einzelheiten erzählt. Ihr jedoch seid vielleicht imstande, ein noch größeres Bild zu erkennen als ich. Ihr habt das Zweite Gesicht, Illyra, und Ihr habt den Sturmgott gesehen, nicht wahr?«
»Die S’danzo haben keine Götter«, antwortete sie abwehrend.
»Aber Ihr habt selbst zugegeben, daß etwas Euren Sohn berührt hat und dieses Etwas eine Beziehung zu bekannten Göttern hat.«
»Nicht zu Göttern, sondern zu Gottgeistern – Gyskourem.«
»Gyskourem?« Molin rollte dieses Wort über die Zunge, und auch die Krähe versuchte diesen Laut. »Geister? Dämonen? Nein, das denke ich nicht, Illyra.«
Seufzend wandte sie sich ab. Sie sprach nun lauter, damit er trotzdem hören konnte, was noch kein Suvesh bisher zu hören bekommen hatte.
»Wir haben die Vergangenheit ebenso wie die Zukunft gesehen. Menschen beginnen mit der Erschaffung von Göttern. Wenn Hoffnung oder Bedürfnis besteht, kommen die Gyskourem, und dann ersteht ein Gott und bleibt, bis Hoffnung oder Bedürfnis erloschen ist. Anfangs sind Gyskourem wie normale Menschen, manchmal werden auch Dämonen als Gyskourem gerufen, sobald sie jedoch gefüllt sind, werden sie echte Götter und sind mächtiger als irgendein Mensch oder Dämon. Um keine Gyskourem zu rufen, erlauben S’danzo sich keine Hoffnung und keine Bedürfnisse.«
»So ist Vashanka nicht der Sohn Savankalas und Sabellias, sondern die Hoffnung und das Bedürfnis der Rankaner, als sie ihre ersten Schlachten fochten?« Der Priester lachte belustigt.
»Auf gewisse Weise. Es könnte jedenfalls so sein. Zumindest ist das das übliche. Allerdings ist es sehr schwierig, so weit zurückzublicken, denn Vashanka ist ein sehr alter Gott«, sagte Illyra ausweichend. Immerhin war dieser Mann ein Priester Vashankas, und sie hatte nicht vor, ihm von der Geburt oder dem Tod seines Gottes zu erzählen.
»Aber nicht so schwierig vorauszusehen, würde ich meinen. Mein Gott ist in großen Schwierigkeiten, nicht wahr, S’danzo?« Fackelhalters Stimme klang rauh und verbittert, so daß Illyra sich unwillkürlich zu ihm umdrehte, obwohl sie um ihr Leben fürchtete. »Macht mir nichts vor, S’danzo. Ihr mögt zwar das Zweite Gesicht haben, aber ich war dort ! Vashanka wurde aus dem Pantheon gerissen! Ils war da, aber ich glaube nicht, daß er oder seine Sippschaft die Lücke füllen können, die durch Vashankas Verschwinden entstanden ist. Und da ist eine Lücke, nicht wahr? Eine Hoffnung? Ein Bedürfnis? Der rankanische Sturmgott, der den Streitkräften Macht und Sieg verleiht, ist nicht mehr hier.«
Sie nickte und zupfte nervös an den Fransen ihres Schultertuchs. »Ich glaube, so etwas gab es noch nie zuvor. Er veränderte sich, wuchs, selbst als er
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