Sturm über Freistatt
schlimmstes. Das Mädchen wurde tatsächlich schwanger und gebar einen Knaben, und zwar nicht ganz zwei Wochen vor Vashankas – Verschwinden. Dieses Kind dürfte im gleichen Alter sein wie Euer Sohn.
Er ist ein sehr merkwürdiger Junge, er neigt zu Wutanfällen und ist häufig mißgestimmt. Seine Mutter und die anderen, die für sein Wohl verantwortlich sind, versichern mir zwar, daß er nicht schlimmer ist als andere Kinder in seinem Alter, aber ich bin da nicht so sicher. Sie sagen, er fühle sich einsam, aber er weigert sich mit irgendeinem der Kinder zu spielen, die aus dem Palast zu ihm gebracht werden. Ich glaube, er hat das Bedürfnis, sich seine eigenen Spielkameraden zu erwählen. Und dann hörte ich heute morgen von Eurem Sohn …« Er hielt inne, aber Illyra führte seinen Satz nicht zu Ende. »Soll ich Euch eine alte ilsiger Münze geben wie der Bursche gestern? Sprechen S’danzo nur zu Gold? Soll Euer Sohn der Gefährte von Vashankas letztem Sohn werden? Ist er der neue Gott, dem ich dienen muß, oder ist er der Gyskouras irgendeiner anderen Hoffnung, die ich vernichten muß?«
»Warum stellt Ihr mir all diese Fragen?« sagte Illyra hilflos, als sie spürte, daß die Worte Molin Fackelhalters ihr Gesicht wieder weckten.
»Ich war Vashankas Hohepriester und Baumeister. Ich bin immer noch Hohepriester und Baumeister des Sturmgottes – aber ich muß wissen, wem ich diene, Illyra. Und wenn es sein muß, werde ich versuchen, eine Einigung des Sturmgotts mit seinem Volk herbeizuführen. Ich könnte Euren Sohn hinaus zu jenem Altar schaffen und ihn als Opfer darbringen; ich könnte ihn in den Palast schaffen und ihn als Gottessohn erziehen, statt jenem, den ich jetzt dort habe. Versteht Ihr die Möglichkeiten, unter denen ich meine Entscheidung treffen muß, Illyra?«
Illyra sah seine Möglichkeiten allesamt ebenso wie die Götter, die besorgt beobachteten, wie Gyskourem zu Freistatts Mahlstrom aus Hoffnung und Bedürfnis gezogen wurden. Das Netz der Verwirrung, das sie um die Stadt gesehen hatte, war nun dort, wo Vashanka gewesen war, und im Augenblick wurde alle andere Magie und Machenschaft durch die Hoffnungen und Bedürfnisse gelenkt, die der erstehende Sturmgott aufnehmen mußte.
Sie preßte die Hände an die Ohren und war sich nicht bewußt, daß sie selbst es war, die schrie. Als sie wieder zu sich kam, lag sie im Staub des Innenhofs, und Myrtis drückte ein feuchtes, kühles Tuch auf ihre Stirn. Dubro funkelte den Priester mit Mordlust in den Augen an.
»Sie ist eine starke Frau«, versicherte Fackelhalter dem Schmied. »Sturmgötter erwählen keine schwachen Boten.« Nunmehr wandte er sich an Illyra.
»Ich habe Vashankas letztem Sohn noch keinen Namen gegeben, ich hatte keinen, der mir richtig erschien für ihn. Jetzt aber werde ich eine Namensfeier für ihn veranstalten und ihn Gyskouras nennen – zumindest, bis er selbst einen anderen Namen für sich wählt. Und Illyra, ich glaube, Euer Sohn sollte bei dieser Feier dabeisein, meint Ihr nicht?« Er rief seine Diener mit einem Schnippen der Finger und verließ den Innenhof ohne förmlichen Abschied. Die große Krähe verlor einige Federn, als sie sich plagte, über das steile Dach des Aphrodisiahauses zu kommen.
»Was habe ich ihm gesagt?« fragte Illyra und klammerte sich an Dubros Hand. »Er nimmt doch Arton nicht zu sich? Ich habe ihm das doch nicht erlaubt, oder?«
Nie würde sie ihren Sohn dem Priester oder den Göttern überlassen, nicht einmal, wenn sich in Fackelhalters Bitte das Silber des wahren Gesichts befand. Dubro würde es nie verstehen, und außerdem erkannten S’danzo die Einmischung von Göttern nicht an. Sie würden die Stadt verlassen, sich, falls es sich als nötig erwies, im Dunkeln hinausschleichen, wie Nachtschatten und Mondblumes Tochter es getan hatten; denn Fackelhalter hatte bereits verfügt, daß niemand ohne seine Erlaubnis aus der Stadt gelassen werden durfte.
Während sie mit dem Priester im Innenhof gewesen war, hatte Myrtis den Kleinen dazu gebracht, ein paar Löffel Honigbrei zu schlucken.
Doch als sie ihn wieder Illyra in die Arme legte, ließ Myrtis keinen Zweifel daran, daß sie nicht glaubte, er würde durchkommen. Und da der Hohepriester ein solches Interesse an ihm bezeigte, wollte sie auf keinen Fall, daß er im Aphrodisahaus überlebte oder starb.
»Wir nehmen ihn mit«, sagte Dubro und hob auch gleich seine Tochter auf den Arm und ging mit ihr voraus auf die Straße. Sie hätten ohnehin
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